Sag deine Wahrheit, Baby

Die Grenze zwischen Pop und Pornografie verschwimmt. Mitten im Mainstream hat sich Pornpop gebildet, ein Zeichensystem, aus dem sich Künstler wie Britney Spears oder Snoop Dogg bedienen

VON TOBIAS RAPP

Ein blondes Mädchen in einer äußerst knappen Stewardessen-Uniform schwingt ihren Hintern ziemlich aufreizend durch ein Flugzeug. Mal beugt sie sich ein wenig vor, so dass das Höschen unter dem kurzen Rock aufblitzt. Sie lächelt verdorben und trägt Getränke durch den Korridor. Halb ungeschickt, halb absichtlich kippt sie über dem Schoß eines älteren Herren ein Glas aus, das ist aber nicht so schlimm, denn gleich macht sie sich über seinen Schoß her und beginn, an seiner Hose herumzurubbeln. Dies ist nicht etwa das Intro zu einer „Gentleman nails blonde stewardess“-Sequenz in einem Pornofilm: So fängt das Britney Spears-Video zu ihrem neuen Stück „Toxic“ an.

Es ist nicht das Einzige, fast jedes Britney-Spears- oder Christina-Aguilera-Video funktioniert ähnlich. Doch die ihren Teenagerjahren entwachsenden Exteenpopstars sind nicht die Einzigen, die sich erfolgreich an einem Crossover zwischen Pornografie und Mainstream-Pop versuchen. Rapper wie Snoop Dogg und Ice-T, demnächst wohl auch 50 Cent, sind in ihrer Nebentätigkeit als Pornofilmproduzenten nicht minder erfolgreich.

Klammheimlich und doch im leuchtenden Zentrum der popmusikalischen Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen Jahren ein Zeichensystem herausgebildet, das man Pornpop nennen könnte. Quer durch alle Stile entfaltet es seine Wirksamkeit, in fast allen Genres kann man seine Spuren finden. Am prominentesten jedoch in zwei Fürstentümern des Pop, die unterschiedlicher kaum denkbar sind und die auf den ersten Blick nicht viel mehr verbindet, als dass sie die beiden dominierenden Genres in der Popmusik der vergangenen Jahre waren: im Teenpop und im HipHop.

Keine Frage: Sex war schon immer ein wesentlicher Bestandteil von Popmusik, von Elvis’ Hüftschwung über Mick Jaggers Mund bis zu Pharrells Oberkörper, von Tina Turners Bühnenerscheinung über Donna Summers Stöhnen bis zu den verschiedenen Reinkarnationen Madonnas. Und spätestens seit Malcolm McLaren die Sex Pistols mit Klamotten aus Londoner Fetischläden ausstattete, gibt es zumindest an den Rändern der Popkultur, in der Gothic-Szene, im Industrial und in einigen Spielarten der elektronischen Musik auch ein konstantes Kokettieren mit der Pornografie, meist in Verbindung mit körperpolitisch gedachten Subversionskonzepten.

Pornpop aber geht weiter. Zum einen hat er Pornografie in das Herz des Pop-Mainstreams hineingeholt, dorthin, wo sich die verkauften Platten in vielfachen Millionen zählen. Zum anderen liegt ihm kein wie auch immer geartetes Subversionskonzept zu Grunde. Die Künstlerinnen und Künstler bedienen sich im Pornpop-Zeichensystem, um ein Glaubwürdigkeitsdefizit zu beheben – auch etwas, das Teenpop und HipHop verbindet, wenn sich die Arten des Umgangs auch entlang der Geschlechtergrenzen unterscheiden.

Britney Spears bisherige Karriere verlief nach dem Drehbuch eines Coming-of-Age-Dramas, wobei sich jeder neue Schritt immer über das veränderte Verhältnis zur Sexualität definierte. Die unschuldige, wenn auch freche Schülerin von „Hit Me Baby One More Time“ verwandelt sich in eine 16-Jährige, die verkündet „Not a Girl, not yet a Woman“ zu sein, um dann als „Slave 4 U Love“ zu bekennen, alles für ihren Liebhaber tun zu wollen. Das funktionierte nur dank seiner strukturellen Verlogenheit: Zwar stand Britneys Sex die ganze Zeit im Mittelpunkt, gleichzeitig war er aber das große Geheimnis, das worüber nicht gesprochen werden konnte (was ihn dann wieder besonders interessant machte, wie jede Wahrheit, über die man nur spekulieren darf).

Nun ist Britney Spears aber volljährig, und die einzige Möglichkeit, die dem erwachsen gewordenen Teenidol bleibt, will es nicht dem Vergessen anheimfallen, ist Wahrhaftigkeit. Der Welt zeigen, wer man wirklich ist. Sich von all den Zwängen befreien, die einem bisher bei der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Wege standen. Dafür kann man entweder zur Künstlerin werden und eine Platte aufnehmen, auf der man sich auf einer akustischen Gitarre selbst begleitet und sein Leid heraussingt. Oder aber man füllt die Kunstpersönlichkeit, die man über Jahre mitentwickelt hat und die einem wahrscheinlich schon zur zweiten Natur geworden ist, mit neuem Leben. Kurz: Indem man die geheime Wahrheit seiner bisherigen Karriere nach außen kehrt und für alle Welt sichtbar macht.

Und hier kommt die Pornografie ins Spiel: Ist sie doch gleichzeitig hoch artifiziell und vollkommen authentisch. Auf der einen Seite ist alles an ihr künstlich, das Setting, die Körperteile, das Immerkönnen und das Immerwollen. Auf der anderen ist alles echt: Es wird wirklich gevögelt. Pornpop ist die vorläufig letzte Möglichkeit, in der Karaokewelt des Mainstreams authentische Geschichten zu erzählen.

Ganz ähnlich und doch ganz anders funktioniert Pornpop im HipHop. Auch hier gibt es ein Glaubwürdigkeitsproblem, auch wenn es sich ganz anders darstellt. Als Snoop Dogg in den frühen Neunzigern der erste Künstler war, dem es gelang mit einem Debütalbum in den amerikanischen Billboardcharts von null auf eins zu schießen, lag das nicht zuletzt daran, dass er mit einer Anklage wegen Totschlags vor Gericht stand. Wer hätte die blutigen Geschichten des Gangsta-Raps glaubwürdiger verkörpern können, als ein Mann, der unter Verdacht stand, an dem gewaltsamen Tod eines anderen beteiligt gewesen zu sein?

Um die Jahrtausendwende herum schien Snoops Karriere dann am Ende zu sein. Seine Platten wurden immer schlechter und verkauften immer weniger. Der große HipHop-Krieg zwischen der Ost- und der Westküste hatte einige Tote gefordert, Gangsta-Rap war am Ende, im HipHop-Mainstream begann man auf das Rezept zu setzen, das auch heute noch gilt: Reich werden durch das Abfeiern des Reichseins. Es war Snoops Idee, sich als Gastgeber selbst produzierter Pornofilme zu versuchen, der ihn zurück ins Zentrum des amerikanischen Mainstreams brachte.

2001 brachte er „Doggystyle“ heraus, ein relativ billig produzierter Film, der in einer Softcore- und einer Hardcore-Variante auf den Markt kam, von Larry Flints Hustler-Imperium vertrieben wurde und laut dem Branchenfachblatt Adult Video News das bestverkaufte Pornovideo seines Jahrgangs wurde. Die dazugehörige Platte war der erste Pornofilm-Soundtrack, der es in die Billboardcharts schaffte. Genauso hielt es Snoop mit dem Nachfolgefilm „Snoop Dogg’s Hustlaz: Diary of a Pimp“ von 2003. Auch dieser Film wird von Larry Flint vertrieben, er ist der erfolgreichste Pornofilm des vergangenen Jahres.

Nun ist der Umstand, dass ein Rapper seiner Karrierestagnation begegnet, indem er sich selbst als Pornofilm-Produzent neu erfindet, schon bemerkenswert. Das eigentlich Erstaunliche ist aber etwas ganz anderes: Snoop ist es gelungen, als pelzmanteltragender und juwelenbehängter Pimp zu einem „cultural icon“ zu werden, wie ihn die New York Times jüngst genannt hat. Er kann in der gleichen Rolle in einer familienfreundlichen Kinokomödie wie „Starsky & Hutch“ auftreten, eine Sendung im Nachmittagsprogramm von MTV bestreiten, mit seiner letzten Platte an die Spitze der amerikanischen Verkaufscharts kommen und über ausufernde Orgien in Pornofilmen herrschen.

Wie jedes Erfolgsrezept, hat Snoops Konzept des Rappers als Pornofilm-Host eine Menge Nachahmer gefunden. Auch 50 Cent, der erfolgreichste Rapper des vergangenen Jahres, hat sein Image umgestellt. Gab er zu Beginn seiner Karriere noch bevorzugt den Gangsta, der mehrere Schießereien überlebt hat, so ist auch er mittlerweile zum Pimp mutiert. Er hat unlängst einen Vertrag mit der Firma Digital Sin abgeschlossen, für die er in einem interaktiven Film unter dem „Groupie Luv“ mitspielen soll. Lil’ Jon und seine Gruppe East Side Boyz haben ebenfalls einen Film herausgebracht, genau wie Ice-T.

Im Grunde könnte man auch R. Kelly dazu zählen, der für seinen Hit „Fiesta“ zwei Videos schneiden ließ, in dem einen fallen die Bikinis im anderen nicht. Tatsächlich unterscheidet sich ein Film wie „Snoop Dogg’s Hustlaz: Diary of a Pimp“ auch nur durch die Sexszenen von einem durchschnittlichen HipHop- oder R & B-Video, die Insignien des Glamours sind die gleichen: Stretchlimousinen, Champagnerflaschen, Gucci-Unterwäsche. Nur der Sex wird nicht mehr nur angedeutet.

Die meisten dieser Filme funktionieren nach dem Prinzip, das Snoop Dogg vorgegeben hat. Er gibt den Zuhälterkönig, der als Gastgeber und Master of Ceremonies über die Orgien präsidiert, die in seiner Villa ihren Lauf nehmen. Die Männer in diesen Filmen sind schwarz, die Frauen haben alle möglichen Hautfarben. Snoop selbst nimmt an den Orgien nicht teil. Er kann so seine Männlichkeit demonstrieren, ohne sie jedoch beweisen zu müssen. Oder – mit Lacan gesprochen –: Der Phallus ist immer abwesend.

Womit das wichtigste Grundprinzip von Pornpop beschrieben wäre. Denn auch für Britney Spears wäre es ein unglücklicher Karriereschritt, sollte ihr während der Bühnenshow ihrer aktuellen Welttournee, eine Brust aus der Korsage rutschen, wie Janet Jackson bei ihrem Superbowl-Auftritt. Britneys Bühnenpersönlichkeit mag zwar „teils Cheerleader, teils Pornostar“ sein, wie der San Francisco Chronicle zum Tourstart bemerkte: So wenig wie Snoop Dogg in seiner Villa ins Geschehen eingreifen kann, so wenig darf Britney im entscheidenden Augenblick eine Blöße zeigen. Das Geheimnis muss bleiben, die nackte Wahrheit darf nicht ausgeplaudert werden.