bücher für randgruppen
: Das tägliche Gedudel

Mit Lautstärke lassen sich ältere Semester bequem verjagen. Denn obgleich das Gehör im Alter abnimmt, entsteht doch ein dringendes Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Die Zeit der Ohrstöpsel beginnt. Selbst bei denen, die einst mit Lärm konzertierten und dem braven Theaterpublikum kokett mit dem Ohrstöpsel winkten. Zum Auftakt der neuen Einstürzenden-Neubauten-Tour sprach Neubautenchef Blixa Bargeld in einem Interview davon, dass er nicht ewig Krach oder Chaos machen könne. Das Bedürfnis nach sanften Tönen ist ein untrügliches Zeichen für die Weisheit oder Weichheit des Alters.

Radio, Computer, Fernsehen und Tonträger sorgen dafür, dass wir ständig von Musik und Geräuschen umgeben sind. Orchester ohne Leib spielen im Schlafzimmer zum Walzer auf und im Supermarkt animiert sinnfreie Dudelmusik zum Kauf einer Ananas. Autor Rüdiger Liedtke widmet sich der Vertreibung der Stille: der akustischen Penetration durch Dauerberieselung, durch Manipulation und den krank machenden Eigenschaften von Musik und Lärm.

Detailliert zitiert Liedtke Resultate wissenschaftlicher Forschung über gesundheitsschädliche Auswirkungen durch brüllend laute Walkmänner, Rockkonzerte und Straßenlärm. So ähnelt das Werk eingangs gelegentlich einem Brevier für besorgte Eltern, die ihre Kinder mit fundiertem Wissen vor den Gefahren des Lautstärkerausches bewahren wollen. Die Sprache durchaus wohlmeinender Pädagogen, die von „einsetzender temporärer Vertäubung“ im Zusammenhang von rauschhaft lauter Musik sprechen, wird dabei allerdings vermutlich bei den betreffenden Problemgruppen eher zum entnervten Hochdrehen des Dezibelpegels führen. Andere Forschungsergebnisse, wie etwa die Feststellung, dass die Häufigkeit vom Diskothekenbesuch dann zunimmt, „je niedriger der schulische Bildungsstandard ist“, bleiben letztlich fragwürdig. Denn was folgern wir aus dieser Feststellung? Mehr geistige Förderung führt zum Untergang der Diskotheken? Oder tanzt die Elite vielleicht wieder, wenn die Musik in Discos besser wird?

Ein Kapitel ist der Manipulation und dem Einsatz von Musik zur Absatzsteigerung gewidmet. Jingles im Werbespot brennen sich in die Köpfe und verbinden Klangfolgen automatisch mit einem bestimmten Produkt. Kein Wunder, dass die Band Stereo Total kürzlich ein ausgesprochen lukratives Angebot ablehnte, ihren Song „Liebe zu Dritt“ für eine französische Salamiwerbung in französischsprachiger Version zur Verfügung zu stellen. „Dann denkt doch jeder sofort an Wurst, wenn wir das Stück spielen. Furchtbar!“, so Françoise Cactus. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit Werbung bereits einen gegenteiligen Effekt auf das Konsumverhalten ausübt. Vielleicht hat ja meine Drohung gewirkt, sofort zu kündigen, wenn Dieter Bohlen neben Müllermilch, Mediamarkt etc. sein aufgerissenes Gebiss weiterhin auf der O2-Rechnung präsentiert?

Ähnlich fantasielos funktionierten mittlerweile auch die meisten Radiosender. Weghören ist angesagt, meint Autor Liedtke: Immer gleichförmiger, nach vorgeblichen Hörerinteressen ausgerichtet, von Marketingforschern ausgetüftelt, dudeln die Programme ununterscheidbar vor sich hin. Die Verflechtung der Musikindustrie mit den privaten und öffentlichen Stationen habe diese Situation herbeigeführt. Dass Musik manipuliert und betört, zeigt natürlich auch ihre Kraft und ihre spirituelle Energie. Die heilende Schamanentrommel fehlt ebenso wenig im Plädoyer für die Stille wie der Gesang zur Hebung der Arbeitsproduktivität. Die Neue Musik dagegen, von Stockhausen bis Boulez, hat es schwer. Nicht nur das Publikum, sondern auch ihre Interpreten leiden unter den „klanglichen Spannungen“. Und nicht selten befalle die Orchestermitglieder nach vollzogenem Konzert der unwiderstehliche „Drang sich zu betrinken“. Das klingt lustig. WOLFGANG MÜLLER

Rüdiger Liedtke: „Die Vertreibung der Stille“. dtv, München 2004, 254 Seiten, 9,50 Euro