Multikulti-Alltag im Viertel – vor Gericht

Was soll ein Amtsgericht schon mit einem drogenabhängigen Handtaschenräuber machen

taz ■ Ein etwa 30-jähriger Mann saß gestern auf der Anklagebank des Bremer Amtsgerichts, sagte mit tränenerstickter leiser Stimme: „Ich wollte das nicht tun. Es tut mir leid.“ Was er getan hatte, daran erinnere er sich eigentlich nicht richtig, er habe viel getrunken – aus Verzweiflung über die Trennung von seiner Frau und den beiden Kindern. Und sei abhängig von Drogen und Tabletten, jedenfalls damals gewesen.

Die Anklageschrift ist hart, sie passt kaum zu dem Bild des sympathischen Mannes vor Gericht: Im März 2002 soll er abends gegen 23 Uhr einer 76 Jahre alten Frau, die mit ihrer Freundin aus dem Theater kam, die Handtasche entrissen haben. Nur weil die beiden alten Damen mutig um Hilfe brüllten und dann dem Mann hinterherliefen, war es möglich, dass Passanten ihn festhielten, bis die Polizei kam.

Der Angeklagte ist 1991 aus Algerien nach Deutschland gekommen, weil er dem Militärdienst entfliehen wollte. Offenbar hat er eine Aufenthaltserlaubnis und geht über eine Zeitarbeitsfirma bei Beck&Co und bei Kelloggs stundenweise arbeiten. Für den Unterhalt und die Sucht reicht das nicht, sagt der Amtsrichter, wo er denn das Geld herhabe über die Jahre? Der Angeklagte tut wieder so, als sei er viel zu harmlos, um die Frage zu verstehen. Durch das Vorstrafenregister konfrontiert das Gericht ihn mit seiner Realität: sechs Eintragungen in zwölf Jahren, eine der Strafen wurde sogar wegen siebenfachem Diebstahl verhängt. Die Strafen bisher waren aber vergleichweise milde.

Was macht ein Amtsgericht mit einem solchen Mann? Muss man einer 76-jährigen Frau davon abraten, ins Theater und spätabends dann zu Fuß über den Ostertorsteinweg nach Hause zu gehen? Wie viele „beschaffungskriminelle“ Akte dieser Art passieren, ohne dass eine Reihe von Zufällen die Festnahme des Täters ermöglicht? Wie gewichtig sind die Asylgründe von Männern, deren Perspektive hier völlig unklar ist?

Offenkundig ist ein Amtsgericht nicht die Instanz, das gesellschaftspolitische Problem zu lösen. Nach dem Gesetz war es nicht Raub, sondern Diebstahl, weil die alte Dame viel zu überrascht war, um ihre Handtasche festzuhalten, verkündet das Gericht. Das Urteil schöpft den Strafrahmen weit aus, verhängt acht Monate Gefängnis für drei Jahre auf Bewährung. Dazu soll der Angeklagte ein Jahr lang jeden Monat 25 Euro von seinem knappen Geld als Strafe zahlen. Ein Bewährungshelfer soll dafür sorgen, dass er „den Pfad der Tugend nicht mehr verlässt“, sagt der Amtsrichter mahnend. Der Angeklagte macht einen sehr geknickten Eindruck, stellt die alte Dame voller Mitleid fest. kawe