der andere blick auf den kirchentag (1)
: Eine jüdische Perspektive von YAEL KUPFERBERG

Das Kultivieren einer Neurose

Der Ökumenische Kirchentag zu Berlin – was halte ich bloß davon? Dazu eine Erinnerung, die sich so oder ähnlich auf dem Evangelischen Kirchentag 1991 im Ruhrgebiet zutrug:

Ein etwa zwei Meter gewachsener junger Mann hielt seine Birkenstocksandale hoch und rief: „Folgt der Sandale!“ Im Nu hatte er an die 30 Lilabehalstuchte hinter sich, die frenetisch dem Messias folgten. Bedauerlicherweise – der falsche. Aus Berlin-Dahlem, damals durch eine tiefrote Gemeindejugend geprägt, die regelmäßig bekennend um die moralisch-ethische Legitimität des Hanfanbaus im Biogarten rang.

Auf dem Kirchentag liefen immer, so erzählte mir ein Freund, heiße „Linkstussen“ herum. Hübsch und aufgeklärt, Töchter der 68er. Erste Erfahrungen mit Drogen, mit dem anderen oder gleichen oder eigenen Geschlecht, erster Liebeskummer. Die gute Sozialisation konkretisiert sich bemerkbar; engagiert in der Schülervertretung, Theatergruppe, bei linken Jugendorganisationen, hin zu einem Freiwilligen Sozialen Jahr in Lateinamerika – oder Israel.

Aber nun: Der Dahlemer Sandalen-Messias war nicht der Fleisch gewordene Erlöser, der für die Christenheit schon da war – und damit hätte der Weltenlauf eigentlich schon beendet sein können, Vorstellung vorbei. Und er wurde auch nicht von den Juden anerkannt, für die noch alles drin ist – es waren schlichtweg keine da, um ihn zu erkennen: So ökumenisch und tolerant er auch sein mag, ich fühle mich nicht vom Kirchentag angesprochen. Und das nicht, weil er das Judentum ignoriert.

Im Gegenteil, die Bemühungen um einen Dialog mit den anderen sind allgegenwärtig, gleich dem Ewigen. Gemäß dem Grundsatz des Religionsphilosophen Martin Buber, der das ethische Prinzip des Dialogs im „Ich und Du“ begründet, verfährt der Kirchentag vorbildhaft: Nicht nur ich, als Angehörige einer Minderheit, bin willkommen im Gespräch, auch Muslime, Homosexuelle, Behinderte, unterprivilegierte Jugendliche etc.

So nehme ich die Einladung in dankender Ablehnung entgegen – sie berührt mich nicht, belästigt mich vielmehr. Vielleicht, weil mich der Gestus an die Praxis des christlichen Ablasses erinnert. Die Praxis der Beichte, und ich weiß, das gilt für die Katholiken, ist mir zuwider; der Protestantismus in seiner Innerlichkeit und Pietät ebenfalls. Der Geschmack wird schal, die „Nächstenliebe“ umarmt mich, eine Brüderlichkeit, die will und nicht kann. Sie kann nicht, weil sie eine Verzerrung ist. Die unterdrückende Über-Ich-Instanz, die nicht zu befreien vermag.

Das „Gutmenschentum“ drängt sich mir auf, die mitleidige Mimik des Gleichmacherischen, der Anteilnahme, des Mitfühlens – die Postholocaust-Empathie – kurz vor der Beschneidung. Die Überidentifikation, ein Phänomen schlecht Getaufter und Unbefreiter, lässt mich erschauern und zwängt mich in die Vorstellung des „Guten Juden“.

Das christliche Verhältnis zum Judentum hat sich geändert, trägt humane – humanitäre Züge. Dem Jüdischen stehe ich nicht als „Glaubensbekenntnis“ nahe, ein aus dem Christentum herrührender und völlig unjüdischer Begriff, vielmehr als Geschichtsgemeinschaft im Bewusstsein der Differenzerfahrung – doch am meisten noch in der Neurose. Diese Neurose prägt mich. Und darin gleiche ich mich der deutschen Christenheit an, die ihrerseits neurotisch ist, insbesondere im Verhältnis zu Juden.

Neurose macht kreativ. Und kreativ ist wohl der diesjährige Kirchentag, das Programm vielseitig, Kritik erwünscht, Säkulares erlaubt, grenzüberschreitende Brüderlichkeit praktiziert. Auf der Höhe der Zeit – um nicht zu sagen des „Zeitgeists“.

Neurosen sind therapierbar und werden kultiviert – wir leben gut mit ihnen, im dialogischen Einverständnis; frei nach der Wahrheit: „Was ist der Unterschied zwischen einem Monolog und einem Dialog? Im Monolog spricht einer zu sich, im Dialog sprechen zwei zu sich.“ Aber immerhin: Sie sprechen – und pflegen die Neurose.

Yael Kupferberg, 25, ist Doktorandin der Literaturwissenschaften und lebt in Berlin.