Die neue soziale Bewegung?

Heute findet in Berlin die bislang wohl größte Demonstration gegen Sozialabbau statt. Der Anfang einer neuen Protestbewegung? Die taz befragte Akteure aus vier Jahrzehnten zu ihren Erfahrungen

NOTIERT VON FELIX LEE
UND UWE RADA

Claudia von Braunmühl

Wenn ich heute über die Siebzigerjahre nachdenke, so standen sie im Grunde schon von Anfang an unter dem Vorzeichen eines Roll-back. Daneben tat sich die Schere auf zwischen dem Marsch in die Institutionen und der Radikalisierung der militanten Bewegungen wie der RAF. Einige wenige haben versucht, Themen in den Stadtteilen aufzugreifen. Dabei hat sich die Berliner von der Frankfurter Hausbesetzerbewegung unterschieden. Während es in Berlin stärker um die Stadt als Lebenswelt ging, war der Stadtteil in Frankfurt eher ein Ort, um antikapitalistische Kritik zu formulieren.

Im Grunde war die ganze Diskussion in den Siebzigerjahren noch von einem sehr fordistischen Sozialstaatsbegriff bestimmt. Aber es gab auch schon Versuche, bestimmte Dinge mit hineinzudenken, die lebensweltlichen Aspekte zum Beispiel, also dass Urlaub nicht nur Regeneration von Arbeitskraft ist, sondern Entdeckungen ermöglicht, die es womöglich schwierig machen, sich wieder in diese Disziplin einzugliedern. Ich finde es allerdings infam, wenn manche behaupten, dass diese Diskussionen um Selbstbestimmung den Weg für die Ich-AGs geebnet hätten. In der Projektewelt der Siebziger- und Achtzigerjahre war immer ein sozialer und solidarischer Gedanke im Vordergrund. Aus diesen alternativen Lebens- und Arbeitsformen sind Gesellschaftsentwürfe entstanden, die nichts mit der neoliberalen Politik von heute gemein haben. Die Ich-AG fügt sich bruchlos in das neoliberale Projekt ein und hat auch eine disziplinierende Wirkung.

Ich selbst komme ja aus der Entwicklungspolitik. Die ganzen Debatten, die wir heute haben – also Privatisierung, Rückzug des Staates aus der Herstellung annähernd gleicher Lebensverhältnisse – hat man in den Entwicklungsländern viel früher beobachten können. Unter dem Begriff der Strukturanpassung wurde die Vergabe von Krediten an Privatisierungsauflagen geknüpft. Nun ist der Paradigmenwechsel bei uns angekommen.

Wenn ich mir anschaue, wie heute teilweise die Kritik daran formuliert wird, finde ich sehr viel rückwärts Gewandtes. Der Sozialstaat, der heute verteidigt wird, hatte immer auch etwas Unbewegliches und Ausgrenzendes. Auf der anderen Seite gefällt mir das Hohelied der Informalisierung nicht. Vielmehr sollte man den Blick auf die Formen der sozialen Gegenwehr richten.

Claudia von Braunmühl (60) ist Politologin und lehrt in Bielefeld und der Freien Universität Berlin

Uschi Volz-Walk

Soziale Bewegung bedeutet für mich, dass auch Existenzielles thematisiert wird. Das haben die meisten Teilbereichsbewegungen in der Vergangenheit wie zum Beispiel die Anti-AKW-Bewegung nicht getan. Die Häuserbewegung in den Achtzigerjahren war dagegen weitgehend eine soziale Bewegung, auch wenn es viele nicht so begriffen.

Wenn ich heute auf die Achtzigerjahre zurückblicke, fällt mir vor allem auf, wie kontraproduktiv die Auseinandersetzungen zwischen den „Reformern“ und uns „Revolutionären“ waren. Gegenseitige Abgrenzung war der politische Umgang, doch dies hat beiden Seiten geschadet. Wenn es also eine Lehre daraus ergibt, dann die, sich zwar solidarisch zu kritisieren, dennoch die verschiedenen Wege manchmal als Befruchtendes zu begreifen.

Positiv war in den Achtzigern die ganze Power. Dieses Gefühl, wir können die Welt aus den Angeln heben. Wir kriegen das hin. Doch auch in dieser Power steckte viel Widersprüchliches. Es ging um unseren Kampf auf der Straße, um Gegenmacht, um den Kampf gegen den Staat. Was taten da so scheinbare Nebenwidersprüche wie Rassismus oder das Patriarchat zur Sache. Im Grunde ging die Bewegung mit einem ziemlichen Schwarz-Weiß-Denken einher.

Das galt auch für die antistaatliche Haltung. Der Staat war der Gegner. Mensch wusste zwar, dass es da auch noch den Kapitalismus gab, aber der rückte immer wieder aus dem Blickfeld. Das änderte sich erst gegen Ende der Achtzigerjahre mit dem IWF-Kongress in Berlin und der Gegenmobilsierung. Da wurden die Analysen differenzierter. Heute sind wir viel weiter. Heute begreifen auch wir die eigene Verwobenheit in all die Dingen, die wir früher außen vor gelassen haben. Das macht aber auch etwas handlungsunfähig. Je differenzierter wir sind, desto weniger Power haben wir. Offenbar braucht Power das Schwarz-Weiß-Denken.

Ob ich heute den Sozialstaat verteidige, während ich früher Politik gegen den Staat gemacht habe? In meinem Umfeld kenne ich niemanden, der zu diesem Sozialstaat zurückwill, außer vielleicht Attac. Das war ja auch alles sehr entmündigend. Wir wollten schließlich nicht ohne Grund etwas anders. Deshalb ist für mich die heutige Gewerkschaftspolitik nach wie vor eine rückwärts gewandte Politik.

Mir geht es jenseits des alten Sozialstaats und der neoliberalen Verwertungslogik noch immer um eine solidarische Gesellschaft. Was die heutigen Verhältnisse angeht, in denen wir leben, bedeutet das auch, den prekären Alltag anders zu organisieren, so wie es in Italien in den sozialen Zentren lange versucht wird.

Uschi Volz-Walk (49) ist seit fast drei Jahrzehnten in den sozialen Bewegungen Belrins aktiv

Freke Over

Wenn ich an die Neunzigerjahre denke, dann daran, dass das eigentlich ein Jahrzehnt des Niedergangs sozialer Bewegungen war. Natürlich, da gab es die Hausbesetzungen in Ostberlin, aber hatte das – mal abgesehen von der Mainzer Straße – nicht auch den Charakter einer weniger sozialen, sondern individualistischen Aneignung von Wohnraum? Und gab es da nicht auch all diese Phasen der Selbstzerfleischung, des Scheiterns an den eigenen Widersprüchen?

Für mich persönlich sind die 90er-Jahre auch die Zeit, in der ich ins Parlament gegangen bin. Das ist ja ein Schritt, der das genaue Gegenteil einer sozialen Bewegung ist. Aber für mich war das konsequent, weil ich nach dem Niedergang der Bewegung glaubte, im Parlament mehr für die Themen, die mich umtrieben, tun zu können.

Wenn ich mir die Diskussionen um eine neue linke Partei heute anschaue, bin ich erstaunt, wie schnell man an diese parlamentarische Richtung denkt. Da gibt es noch gar keine Bewegung, und schon will man bei Wahlen kandidieren. Seltsam.

Interessant sind auch die Lebenswege der Akteure der 90er-Jahre: ein uneinheitliches Bild. Viele sind in die Medien gegangen, andere haben sich ihre künstlerischen Nischen gebaut, haben Projekte gemacht, wieder andere schlagen sich immer noch mit dem Arbeitsamt rum. Eine Entpolitisierung gibt es nicht nur im Parlament, sondern auch im Lebensalltag.

Das ist dann aber das genaue Gegenteil einer sozialen Bewegung, schließlich hat die immer noch den Anspruch, gesellschaftsverändernd zu wirken. So gesehen, bin ich ziemlich frustriert und schaue auch mit Skepsis auf die Demonstrationen gegen Sozialabbau. Eine Alternative sehe ich jedenfalls noch nicht.

Freke Over (36) war Hausbesetzer und ist PDS-Abgeordneter in Berlin

Jens Fischer

So richtig politisch aktiv bin ich erst seit einem Jahr, den Nullerjahren also. Während des Irakkrieges hat mir ein Mensch von einem Aktionsbündnis einen Flyer in die Hand gedrückt. Das ging alles sehr schnell. Wenn man bei Attac etwas machen will, kann man schnell Verantwortung übernehmen. Nicht wie bei einer Partei oder anderen NGOs, bei denen man sich lange durch die Hierarchien hocharbeiten muss. Es war für mich sehr abwechslungsreich, konkret etwas auf die Beine zu stellen. Ich war bei einem Aktionstraining und dann bei den Protesten in Evian. Auch beim Studi-Protest im Winter war ich sehr aktiv. Wir konnten zwar nicht die Rücknahme der Beschlüsse durchsetzen, aber der Streik hat viele politisiert. Und er hat gezeigt, dass sich Veränderungen nur mit einem langen Atem erreichen lassen.

Nach dem Streik ging es für mich gleich weiter. Ich war bei vielen Vorbereitungstreffen für die Demonstration am 3. April. Ich glaube, dass der europaweite Aktionstag enorm wichtig ist. Wahrscheinlich wird es der größte Protest gegen Sozialabbau sein, den es in der Bundesrepublik je gab. Den Parteien und Parlamenten traue ich nicht mehr, eine wirkliche Opposition von links gibt es nicht. Deswegen halte ich auch nicht viel von einer neuen Linkspartei. Um etwas zu verändern, muss der Druck von einer außerparlamentarischen Bewegung kommen.

Das Neue an unserem Protest ist sicherlich, dass wir weniger ideologisch verbohrt sind. Das finde ich gut. Wir haben weniger Berührungsängste gegenüber anderen gesellschaftlichen Kräften. Das wird auch den Erfolg dieser Demo ausmachen. Und obwohl es die Gewerkschaften nicht so klar formulieren, so ist doch allen klar, dass sich der Protest gegen Sozialdemokraten und Grüne richtet. Ich glaube, ein so breites Bündnis, an dem Gewerkschaften, Attac, Sozialverbände und linke Gruppen beteiligt sind, hat es so noch nie gegeben. Da können wir von anderen Ländern noch viel lernen, wo es das schon lange gibt.

Und ich finde es gut, dass die Proteste internationaler werden. Die Menschen merken, dass Globalisierung und Kapitalismus nicht mehr etwas Abstraktes sind, sondern dass wir alle davon direkt betroffen sind. Und wir merken, dass sich Probleme nicht national lösen lassen. Nur wenn die Menschen sich überall wehren, können sie nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Jens Fischer (21) ist Student und seit einem Jahr aktiv bei Attac