Politische Blockade in Frankreich

Nichts geht mehr: An der Rentenpolitik und der Dezentralisierung der Schulen scheiden sich die Geister. Heute will Premierminister Raffarin das Rentenpaket vom Ministerrat annehmen lassen. Ab Montag drohen weitere Streiks

aus Paris DOROTHEA HAHN

Was tun, wenn sich zwei ebenso starke wie entschlossene Lager im Land gegenüberstehen? Wenn eine rechte Regierung, unterstützt vom Unternehmerverband, die Lebensarbeitszeit verlängern und die Rente senken will und wenn sie argumentiert, es gäbe extremen Zeit- und Handlungszwang? Und wenn die Gewerkschaften, unterstützt von der Mehrheit der Bevölkerung, die grundsätzliche Überarbeitung des Projekts verlangen und erklären, dass es sowohl Alternativen zur Rentenfinanzierung als auch die nötige Zeit zum Verhandeln gebe, und wenn sie den Widerstand auf der Straße und in den Betrieben organisieren?

Die Antworten auf diese Frage, die Frankreich seit Tagen umtreibt, fällt unterschiedlich aus. Premierminister Jean-Pierre Raffarin, dessen Regierung über eine stabile Mehrheit verfügt, dessen Popularität jedoch täglich weiter sinkt, sagt: „Keine Zugeständnisse machen.“ Heute will er das Rentenpaket in der Ministerratssitzung annehmen lassen. Mitte Juni will er es durch das Parlament bringen. Anfang Juli möchte der Premierminister zu seiner eigenen Absicherung die Vertrauensfrage stellen.

Die Gewerkschaften ihrerseits sagen: „Echte Verhandlungen führen.“ Solange die Regierung dazu nicht bereit ist, wollen sie ihre Proteste fortsetzen. Vor dem anspornenden Hintergrund der größten sozialen Demonstrationen seit vielen Jahren am Sonntag und angefeuert von einer Basis, die in manchen Gegenden Frankreichs zu radikalen Aktionen entschlossen ist, rufen sie zur Ausweitung der Streiks auf.

Gestern war bereits ein großer Teil der Schulen, 70 Prozent der Luftfahrt, die Post, ein Teil der Müllabfuhr, des Nahverkehrs und der Krankenhäuser bestreikt. Der nächste Höhepunkt soll der kommende Montag werden. Bis dahin wollen die Gewerkschaften mit dem Crescendo warten aus Rücksicht auf das bevorstehende lange Wochenende. Dann werden voraussichtlich die Eisenbahner und andere Verkehrsbetriebe in den unbefristeten Streik treten.

Sollte es am nächsten Montag tatsächlich zu diesem unbefristeten Streik kommen, wäre Frankreich blockiert. Genau das wollen sowohl Regierung als auch Gewerkschaftsspitzen vermeiden. Die Regierung hat mit diesem Ziel bereits mehrere vergebliche Manöver versucht. Vor zwei Wochen hat sie mit zwei regierungsnahen Minderheitengewerkschaften einen „Rentenkompromiss“ unterzeichnet, den nicht nur die Mehrheitsgewerkschaften, sondern auch ein Teil der Basis der beiden Minderheitsgewerkschaften vehement ablehnt. Dann hat sie den Eisenbahnern und den Pariser Métrobeschäftigten per Brief versichert, sie seien gar nicht von der Rentenreform betroffen. Dann hat sie den streikenden Lehrern mit Sanktionen gedroht, falls sie die bevorstehenden Abiturprüfungen behindern sollten. Dann hat sie ihren Terminplan geändert, um Zeit zu gewinnen.

Inzwischen überlegt Raffarin bereits, die Dezentralisierung der staatlichen Schulen ganz zu verschieben – ohne neues Datum. Denn das Vorhaben, die Finanzierung von zunächst mehr als 100.000 Arbeitsplätzen in den Schulen an die Regionen zu übergeben, hat nicht nur Lehrerstreiks provoziert, sondern sorgt auch bei den Eltern für die weit verbreitete Sorge vor einer „Schule für Arme“.

Erpicht auf ein Szenario à la 1995 sind auch die Gewerkschaften nicht. Denn anders als vor acht Jahren haben die Gewerkschaften heute keine starke linke Opposition im Rücken, die politische Alternativen entwickelt und die auf einen Machtwechsel hoffen kann. Zudem ist völlig offen, wie sich die große Sympathie für die Protestbewegung entwickelt, wenn das ganze Land still steht.