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: Ausgeherfahrungen beim Ökumenischen Kirchentag

Gottes ravende Nation

Eine große Langeweile macht sich schon seit einiger Zeit in unserer kleinen Stadt breit. Es gibt keine echte Begeisterung mehr, sind wir alle Zyniker, Nihilisten geworden? Gibt es nichts mehr, was uns das Herz aufgehen lässt, Abende, an denen wir voller Erwartung vor die Tür gehen mit dem großen Gefühl in der Brust, etwas Großartiges könne, müsse passieren? Sind wir selbst schuld an der Misere oder sind es die anderen? Teils, teils.

Vielleicht kann uns da der Kirchentag mit seinen ca. 14.000 Angeboten auf 800 Bühnen ein wenig Anregung bringen. Wer jetzt irritiert den Kopf schüttelt, dem sei ins Gedächtnis gerufen, dass Kirche und Club doch nah beieinander liegen: „God is a DJ“ titelte vorgestern noch sinnigerweise diese Zeitung, der Club als Kirche, die Tanzenden als auf Erlösung durch Musik hoffende Gemeinde, das sind ja beliebte Analogien der frühen Clubeuphoriejahre.

Jetzt, wo der Glaube an den Club nachgelassen hat, ist es vielleicht Zeit, den Glauben im Glauben zu suchen. Warum also nicht vom Kirchentag Anregungen fürs Ausgehleben nehmen? Auch viele Prominente bekennen sich ja inzwischen zum Glauben. Also sollten auch wir dem Event Ökumenischer Kirchentag – dem ÖKT, wie Insider sagen – vorurteilsfrei gegenüberstehen. „Wir sind auf Achse, von früh bis spät / Mit Fanta und Butterkeks, wir sind junge Christen / unterwegs“ singt zwar der berühmte Dichter Funny van Dannen, der sonst immer Recht hat. Aber an dieser Stelle müssen wir nachfragen: Stimmt dieses Bild vom jungen Christen noch?

Das lässt sich durch einen kleinen Ausflug zur Christenbeobachtung am Brandenburger Tor herausfinden. Und siehe: Die jungen Christen kommen recht trendy daher. Drei Dinge machen den christliche Raver aus: Rucksack, Stadtplan, dazu der gelbe ÖKT-Schal. Nicht alles versteht der beobachtende Kirchentagsneuling, fremde Zeichen und Codes nennen die Gläubigen ihr Eigen. Mehrere große, orangefarbene Schwimmreifen hängen schief am Himmel, zwei liebe Pferde stehen am Schlossplatz in einer improvisierten Koppel. „Mist ist ein Segen“ steht auf einem großen Schild neben einer Schubkarre. Das hat wohl irgendwie mit Erntedank zu tun. Aber was soll die fünf Meter große silberne Gummipuppe, wahrscheinlich männlichen Geschlechts, die an Schnüren über dem Grünstreifen unter den Linden in der Luft baumelt? Ein Hinweis auf Christi Himmelfahrt? So die ersten wirren Eindrücke dieses ersten Tages.

Abends dann, wieder sinnlos ins weltliche Ausgehleben geworfen, heißt es orientierungslos durch die Straßen Berlin Mittes lungern. Die neue Szenepizzeria 7/24 in der Torstraße hat sich noch nicht recht durchsetzen können. Verwaiste, damastgedeckte Tische warten auf Gäste, im leeren Untergeschoss hat man einen Fernseher aufgebaut, es läuft ein wüster Hausfrauenstriptease auf Onyx. Das gehört wahrscheinlich zum Konzept der ironischen Steinofen-Location. Aber was soll das alles? Heißt das, gelebt? Heißt das, die eigene Existenz gefühlt?

Ein paar Meter weiter im White Trash steht man bei der Kitty-yo-Party auch recht freudlos, planlos herum. Eine große Leere kommt auf. Man wünscht sich Ansprache, echte Begegnungen, ja wünscht sich plötzlich, auf ein paar echte versprengte Christen zu treffen. Nur zum Reden. Seid ein Segen, heißt doch euer Motto ! Also, wo seid ihr? Keine Antwort. Wo sind sie nur, was machen sie, fremd in Berlin nachts um halb drei? Ach, sie liegen wahrscheinlich schon glücklich erschöpft von den tollen Erlebnissen in ihren Turnhallen.

CHRISTIANE RÖSINGER