Wie die Zinnsoldaten

Der AC Mailand sichert sich durch ein 3:2 im Elfmeterschießen den Gewinn der Champions League über Juventus Turin. Das Finale allerdings bleibt frei von wirklich hochklassigem Fußball

aus Manchester RONALD RENG

Der Europapokal flog durch die Stadionkatakomben von Old Trafford. Ohne Sinn und Verstand sauste der riesige, silberne Cup durch die Luft, mal nach rechts, einem Ordner fast ins Gesicht, dann schon wieder ruckartig nach links, so wie Christian Abbiati, der Ersatztorwart des AC Mailand, es wollte. Als Abbiati schließlich die Schnur, an die er den Cup gebunden hatte, still hielt, stieg der Pokal auf und schwebte einen halben Meter über allen. Der Pokal über allem: Um halb eins in der nordenglischen Nacht zählte nicht mehr, wie sie ihn erobert hatten, sondern nur noch, dass der AC Mailand ihn hatte – auch wenn es streng genommen nur eine aufgeblasene Plastikkopie, ein Luftballon war, den Abbiati wie seinen größten Schatz zum Mannschaftsbus trug.

Nach Endspielen sehen Sieger immer gleich aus: überdreht und kindisch – sogar an einem Abend, an dem weit und breit kein Gewinner zu sehen war. Niemand durfte erwarten, dass der AC Mailand und Juventus Turin ausgerechnet im Champions-League-Finale ihre kalkulierende Spielweise ändern würden, wo doch schon ganz andere Teams in Endspielen vorsichtig und ängstlich wurden. Doch für das, was am Mittwoch in Manchester geschah, nachdem Milan in den ersten 30 Spielminuten mit exzellentem Direktpassspiel etwas Großes angekündigt hatte, gibt es wenig Vergleiche. So öde war seit der WM 1994, als Italien und Brasilien sich gegenseitig zu Tode langweilten, kein internationales Finale mehr. Es war nicht einmal das erwartete taktische Austesten im ersten exklusiv italienischen Europacupfinale. Es war einfach nur schlecht. „Der ganze Abend ging schief, es war schlimm, schrecklich, grauenhaft“, sagte Juves Trainer Marcello Lippi – und da redete er nur von seiner Elf, die in 120 Minuten genau eine Torchance zustande gebracht und nach dem 0:0 nach Verlängerung beim 2:3 im Elfmeterschießen mehr Strafstöße verschossen als verwandelt hatte.

Es ist nach solch einer deprimierenden Partie einfach zu klagen, ein Champions-League-Endspiel hätte ein Real Madrid oder wenigstens ein Ajax Amsterdam verdient gehabt, irgendeine schwungvolle Elf. Die traurige Wahrheit aber ist, dass sich niemand mehr als Milan und Juventus die Finalteilnahme verdient hatte. Klasse, gut dosiert, reichte in einer Europacup-Saison, in der außer dem FC Barcelona kein Team beständig gut spielte. Milan ächzte und stöhnte nach einem fliegenden Start ab Februar nur noch Richtung Manchester, Juventus bot lediglich ein wirklich außergewöhnliches Spiel, im Halbfinale gegen Real Madrid fand dieses statt. „Ein Finale ist ein Match für große Spieler. Und die großen Spieler waren heute nicht da“, sagte Lippi. Mag sein, dass er damit vordergründig auf die Abwesenheit seines gesperrten Kreativen, Pavel Nedved, sowie des in Old Trafford frühzeitig verletzten Verteidigers Igor Tudor hinweisen wollte. Für die restlichen Spieler waren Lippis Worte eine Bankrotterklärung. Ein Offensivspiel gab es nicht bei Juventus, helle Momente nur im Destruktiven, wenn Torwart Gigi Buffon eine Parade hinlegte oder Innenverteidiger Ciro Ferrara mit seinen Grätschen dem Gegner den Ball und den Zuschauern den Atem raubte.

Doch es waren die Geister, die Lippi gerufen hat, die sich dabei an ihm rächten: Er hat seinen Spielern die Individualität gestohlen, indem er sie zu Zinnsoldaten in seinem schematischen, defensiven Systemfußball degradierte. Da darf er nicht erwarten, dass sie urplötzlich Eigenverantwortung entwickeln. Als er vor dem Elfmeterschießen Freiwillige suchte, „haben fünf Spieler Nein gesagt“, klagte Lippi. „Ich kann als Trainer doch nicht selber schießen.“

Es war, nach 1997 und 98, das dritte verlorene Europacupfinale in Folge für Juventus und Lippi. Doch er wird daraus keine Lehren ziehen. „Das Hauptmerkmal des italienischen Fußballs ist nun mal die Defensive“, sagte auch Juves Stürmer Alessandro del Piero, „und darauf sind wir stolz.“ Dass Milan, obwohl bemühter, letztlich auch nicht mehr Kreativität brauchte, um den Cup, den sechsten des Vereins und den ersten seit 1994, zu gewinnen, wird Lippi und zu viele andere in Italien wohl bestärken, dass es nicht nötig ist, technisch wunderbaren Spielern, die sie in Italien ja im Überfluss haben, mehr Entfaltungsfreiheit zu geben.

„Hey, duschst du gar nicht?“, schrie jemand Milans Ersatztorwart Christian Abbiati zu, als er, noch in Torwartkluft, mit seinem Europacup-Luftballon aus dem Stadion spazierte. „Duschen? Morgen!“, sagte Abbiati, lachte herzlich , und als er ganz nahe herankam, merkte man: Dieses Finale hinterließ einen üblen Geruch.

Juventus Turin: Buffon - Thuram, Tudor (42. Birindelli), Ferrara, Montero - Camoranesi (46. Conte), Tacchinardi, Davids (65. Zalayeta), Zambrotta - Trezeguet, Del PieroAC Mailand: Dida - Costacurta (66. Roque Junior), Nesta, Maldini, Kaladse - Gattuso, Pirlo (71. Serginho), Rui Costa (87. Ambrosini), Seedorf - Schewtschenko, Inzaghi Schiedsrichter: Merk (Kaiserslautern); Zuschauer: 63.215 (ausverkauft); Elfmeterschießen: Trezeguet scheitert an Dida, 0:1 Serginho, 1:1 Birindelli, Buffon hält Schuß von Seedorf, Zalayeta scheitert an Dida, Buffon hält Schuß von Kaladse, Montero scheitert an Dida, 1:2 Nesta, 2:2 Del Piero, 2:3 Schewtschenko;