Ein paar Stunden an der Spitze

Über eine viertel Million Menschen demonstrierten am Samstag gegen Sozialabbau und die rot-grüne Regierung. Der größte Zug lief vom Alex zum Brandenburger Tor. Wie fühlt man sich an der Spitze einer solchen Demo? Eine Momentaufnahme

VON FELIX LEE

Sie heißen Micha, Sascha, Sahra und Werner, und sie sind die Spitze. Die Spitze des Demonstrationszugs, der vom Alex zum Brandenburger Tor läuft. 80.000 sind es, vielleicht auch 100.000. So genau wissen sie es nicht. Einige zehntausend von insgesamt 250.000 in Berlin. Als sie sich in Tippelschritten langsam dem Potsdamer Platz nähern, wird ihnen per Handy mitgeteilt: Das Ende der Demo steht noch auf dem Alex.

Micha, das ist Michael Prütz vom Berliner Bündnis gegen Sozial- und Bildungsraub. Vier Monate hat er geackert, Aufrufe geschrieben, Bündnisse geschmiedet und verhandelt. Vor allem mit den Gewerkschaften. Das war nicht immer einfach, gibt er zu: „Aber ist doch gigantisch, was wir erreicht haben, oder?“ Prütz ist zugleich Initiator des linken Wahlbündnisses, dass mit einem Volksbegehren den rot-roten Senat kippen möchte. „Ich bitte euch, hinter dem Fronttansparent zu bleiben“, ruft er mit dünner Stimme durch sein Megafon. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn längst haben einige hundert Gewerkschaftsjugendliche das Fronttransparent überholt und preschen vor in Richtung Potsdamer Arkaden. „Ich bin ganz schön geschlaucht“, sagt Prütz. Er sieht auch so aus.

Kämpferisch hingegen ist Sascha Kimpel. Student, aktiv im Berliner Sozialforum und Mitglied bei Attac ist er auch. Vor Beginn der Demo hatte er sich noch geärgert, dass auf dem Leittransparent rechts neben „Gemeinsam gegen Sozialkahlschlag“ das DGB-Logo drauf ist. Wochenlang hätten Gewerkschaften, Sozialverbände und Attac um den genauen Ablauf der ersten Reihe gestritten, und dann mache der DGB doch, was er will. „Das ist frech“, empört sich Kimpel. Er war auch schon für die Schere. Doch sie einigten sich darauf, das DGB-Zeichen wegzuknicken, sodass nur noch ein roter Zipfel zu sehen war. Damit gab sich Sascha zufrieden.

Sahra lässt das kalt. Sahra ist von der PDS. Ihr Nachname: Wagenknecht. Ohne mit nur einer ihrer geschminkten Wimpern zu zucken läuft sie ebenfalls in der ersten Reihe. Entschlossen, mit erhobenem Haupt, als würde sie schnurstracks dem Kommunismus entgegengehen und nicht dem Brandenburger Tor.

Und da ist Werner Hallbauer. Sein Erkennungszeichen: eine Attac-Fahne, die aus seinem Rucksack ragt. Er ist Befürworter einer neuen Linkspartei, würde sich da auch persönlich engagieren. Doch nur als Ergänzung zum Straßenprotest.

Nur Hasso fehlt. Hasso Düvel, ostdeutscher Bezirksleiter der IG Metall. Er sollte eigentlich auch mit vorne laufen, beteuert Prütz, er wisse aber auch nicht, wo Düvel steckt. Ansonsten fehlen sie wahrlich nicht, die Gewerkschafter. Gleich hinter der ersten Reihe quillen die Gewerkschaftsmassen aus dem Demonstrationszug. Ein Block mit 5.000 Fahnen der IG Bergbau-Chemie-Energie konkurrieren mit dem noch längeren Zug der IG BAU. Die IG-Metaller gehen fast unter im Vergleich zum Fahnenmeer der rot-weißen Verdianer. Auch der rund ein viertel Kilometer lange Attac-Zug wirkt fast ein wenig kümmerlich im Vergleich zu dem mindestens doppelt so langen DGB-Jugendblock. Und selbst der besonders radikal auftretende, schwarz dominierte „Wir wollen alles“-Block mit rund 4.000 Demonstranten geht in der Masse der Gewerkschafter unter.

An der Spitze gibt es viele Meinungen. „Ich setze auf die außerparlamentarischen Bewegung und nicht auf Rot-Grün“, sagt Anne Ales vom runden Tisch der Erwerbslosen. „Viele Parteien bedeuten viel Kleinkrieg“, findet die 68-jährige Edith Rot von der DKP auf die Frage, ob die Linkspartei kommen solle. Ein Mann mit Schnauzbart wünscht sich den Generalstreik, und Cony Protze (21), Mitglied bei den Jusos in Rostock, glaubt nicht, dass sich mit dieser Demonstration „in den Köpfen von Schröder oder Münte“ etwas verändert habe. Alexander Specht, Trompeter aus Schlema im Erzgebirge, ist dem Aufsteh-Aufruf des DGB am frühen Morgen gefolgt, um mit seiner Kapelle Kanzler Schröder „was ins Ohr zu blasen“, und Silvia Both, Ver.di-Mitglied in Berlin, freut sich, dass „ihre Basis der SPD endlich ihre Gefolgschaft gekündigt“ habe. Nur das Grünen-Bashing fehle ihr. Die seien nämlich kein Stück besser als die Sozialdemokraten.

Die Demo-Spitze hat indes den Tiergarten erreicht. Werner ist der Einzige von Attac, der bis zum Ende die Stellung am Fronttransparent gehalten hat. Sahra schreitet weiter mit entschlossener Miene, und Sascha faltet fein säuberlich das DGB-Transparent zusammen. Und Micha? Der ist plötzlich nicht mehr zu finden.