Angst vorm Deflationsgespenst

Die deutsche Wirtschaft wird untergehen, weil die Preise bald in den Keller gehen, warnt so mancher Ökonom. Politiker und Banker hingegen dementieren heftig jedes Anzeichen für eine Deflation. Offenbar setzen sie auf die Europäische Zentralbank

von HERMANNUS PFEIFFER

Oskar Lafontaine hat das Gespenst aufgeweckt, das zuletzt im Jahr 1998 beerdigt worden war. Als der frühere SPD-Parteivorsitzende in einer herbstlich-trüben Bild-Kolumne Kanzler Schröder mit Hungerkanzler Brüning verglich, warnte er vor dem Verfall der Preise. Die Warnung Lafontaines blieb zunächst unbeachtet. Erst im wonnigen Mai scheuchte der Internationale Währungsfonds (IWF) das Gespenst der Deflation erneut auf: Die Wahrscheinlichkeit sei „hoch“, dass die deutsche Wirtschaft in einem Preisverfall untergehe.

Nein, nein, die Gefahr sei überhaupt „nicht sehr hoch“, widersprach Lucas Papademos, Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Und sowohl Wirtschaftsminister Wolfgang Clement als auch Finanzminister Hans Eichel (beide SPD) können nun überhaupt keine Anzeichen von Preisverfall entdecken. Mittlerweile dementieren Banker und Politiker jegliche Deflationstendenz so heftig, dass wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen.

Was soll furchtbar gefährlich daran sein, wenn Edeka seine Regale fast nur noch mit Billigartikeln füllt, das Saturn-Kaufhaus nur noch Geiz geil findet, der Reiseriese Öger-Tours noch preiswerter in die Türkei tourt? Purzelnde Preise treffen zunächst die Umsätze der Unternehmen, es folgt ein Kampf um noch billigere Preise, und bald lohnt es sich kaum noch, etwas zu verkaufen. Selbst die Verbraucher verweigern sich trotz superbillig, weil sie lieber auf noch günstigere Angebote warten. Daraufhin schraubt die Wirtschaft Produktion und Investition zurück, Kaufkraft schwindet, Preise fallen weiter, und die geplagte Ökonomie versinkt in tiefer Depression.

Anfangs erscheint ein solches Horrorszenario weit hergeholt, wären da nicht ein paar unangenehme Erfahrungen. So war 1929 dem Börsencrash an der Wall Street und der Weltwirtschaftskrise eine deftige Deflation vorangegangen, und der lafontainsche Hinweis auf die 20er-Jahre und Kanzler Brüning ist insofern stimmig, als dieser durch eine rigide Geldpolitik die Lebenshaltungskosten in den Keller drückte und die Deflation siegte. Auch der aktuelle Dauerschlaf Japans, dessen Volkswirtschaft seit über einem Jahrzehnt stagniert, begann nach einem rasanten Preisverfall.

So weit ist es hierzulande noch nicht. Die Inflationsrate in Euroland beträgt immer noch 2,1 Prozent, in Deutschland allerdings nur noch 0,7 Prozent. Tendenz in beiden Fällen sinkend. Messfehler einkalkuliert, liegt die reale Rate wohl schon um die Null-Marke herum. Zudem erhöht der starke Euro den Preis-nach-unten-Druck, da er die Importe verbilligt. Notverordnungskanzler Brüning schaffte es, die Preise um ein Viertel zu drücken, davon sind wir jedoch weit entfernt. Zugleich hatte er keine eigenständige Zentralbank als Gegenspieler zu fürchten.

Aber auch moderne Volkswirtschaften sind störanfällig. US-Notenbank-Chef Greenspan hält plötzlich auch in den USA einen unerwünschten Preisrückgang für möglich. Sollten die drei führenden Wirtschaftsmächte Deutschland, Japan und Amerika in der Deflation scheitern, wäre der Ausgang aus dem globalen Konjunkturtal versperrt. Die zuständige EZB steckt derweil im üblichen Dilemma. Ihr Job ist die Sicherung solider Preise, worunter inzwischen eine euroweite Preissteigerungsrate von „knapp unter zwei Prozent“ verstanden wird. Dummerweise ist die Kluft zwischen den einzelnen EU-Staaten groß, denn während in Deutschland die Preise im Jahresvergleich auf null zurasen, klettern sie in einigen Ländern wie Irland und Spanien um bis zu fünf Prozent nach oben.

Die EZB könnte daher auf ihrem nächsten Treffen am 5. Juni versucht sein, alles beim Alten zu lassen. Aus deutscher Sicht wäre dagegen eine Senkung der Leitzinsen um mindestens 0,5 Prozentpunkte dringend notwendig, um Investitionen und Konsum anzuregen. Eine Mehrheit der Analysten rechnet auch tatsächlich mit einem kräftigen Zinsschritt um 50 Basispunkte auf einen Leitzins von dann zwei Prozent. Europa könnte hoffen, dass die ehemalige Konjunkturlokomotive endlich wieder Fahrt aufnimmt. Und Oskar Lafontaine müsste dann das Deflationsgespenst erst einmal wieder zur Ruhe betten. Bis zum nächsten Mal.