Von Alltagsleben bibelweit entfernt

Seid fruchtbar und mehret euch: Mehr haben beide christlichen Kirchen zum Thema Familie und Ehe nicht zu sagen

Die Kirche ist nur widerstrebend bemüht, sich dem wirklichen Leben zu stellen

BERLIN taz ■ Nichts beschäftigt Menschen – egal, ob sie sich als christlich, muslimisch, jüdisch oder Glaubensfragen gegenüber ignorant verstehen – mehr als Fragen des Zusammenlebens. Besser: familiären Zusammenlebens. Mit oder ohne Kinder. Ob als Single, Nochsingle, LiierteR, Ehemann oder Ehefrau. Davon lebt das psychologische Gewerbe heute besser als das christliche Gewerbe – und das liegt an den deutschen Hauptkirchen und ihrer seelsorglichen Praxis selbst.

Zwar offeriert dieser Ökumenische Kirchentag eine Fülle von Veranstaltungen, die sich jenen typischen Fragen widmen, mit denen sich Männer wie Frauen heutzutage zu plagen haben: Was ist ein Mann? War Jesus als Mann schmusig oder eher schroff, exegetisch betrachtet? Wie ist es um das Schicksal von Scheidungskindern bestellt? Was macht eine Ehe glücklich, was lässt sie scheitern? Was lohnt die Dauer einer Beziehung, wann ist sie fruchtlos? Reicht eine Liebe für ein ganzes Leben – zumal in Zeiten, da die Menschen immer älter werden können? Wie balanciert man Patchworkfamilien?

Die christlichen Amtskirchen haben auf solche sehr nahe liegenden, also praktischen Fragen kaum Antworten. Davon abgesehen, dass die katholische Kirche über weiter gehende Positionen als das vulgärbiblische „Seid fruchtbar und mehret euch“ nicht verfügt, was nicht wundert, findet doch schon die Einnahme (oder das Überstülpen) von Verhütungsmitteln die Missbilligung des Vatikans, ist auch die protestantische Kirche nur eher widerstrebend bemüht, sich dem weiten Feld des wirklichen Lebens (und all seinen Wechselfällen) zu stellen.

Familie sei, wo Kinder sind, soll nicht die Position sein, die die Kirche vertritt, das ist das Gemeinsame beider Amtskirchen. Kinder mögen in Ehen aufwachsen, heißt es einmütig, und wenn sie dies nicht können, gelten sie auch weniger. Das klassische Modell von „Vater-Mutter-Kind“ sei das gültige, sagt selbst der EKD-Ratspräsident Manfred Kock und beklagt die niedrige Geburtenrate. „Je ausgeprägter die Berufsorientierung insbesondere der Frau ist“, so der wichtigste Sprecher des deutschen Protestantismus, „desto weniger Kinder wünschen sich die Paare.“ Als ob nicht überall die meisten Frauen gegen ebendieses Rollenschema aufbegehren und sich nicht in ein vom Mann abhängiges Mütterchen verwandeln wollen.

Vielmehr wäre es doch gerade Aufgabe der Kirchen, die Väter zu fordern: dass sie sich von der Idee des Paterfamilias lösen und sich ebenso um ihr Kind kümmern wie die Mutter. Vielleicht ist das beiden Kirchen zu viel zugemutet – es sind ja vornehmlich Männerkirchen, deren Bilderwelten von einem Buch, der Bibel nämlich, grundiert wurden, welches noch das patriarchale Modell favorisiert. Dass deshalb die Anerkennung homosexueller Elternschaften oder wenigstens patchworkartiger Familien aussteht, dass solche familiären Formen nicht den Segen der Kirche finden, versteht sich dann fast von allein. Kirche könnte mehr bieten – ein Dach, unter dem der Maßstab gelte: Familie ist, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen.

Heute, 15 Uhr: Familien unterm Regenbogen, Kath. Grundschule St. Ludwig, Ludwigkirchplatz 10, Berlin-Wilmersdorf JAN FEDDERSEN