Nur Mut zur sozialen Utopie

VON ECKARD MINX
UND HARALD PREISSLER

„We eat change for breakfast!“ „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“ „Neue Wirtschaft.“ In der täglichen Flut von Botschaften, die über uns hereinbricht, steckt der immer gleiche appellative Kern: Veränderung! Das Neue ist besser als das Alte.

In dieser allgemeinen Fortschrittsstimmung hat schon die Frage „Was soll warum anders werden?“ einen geradezu aufwieglerischen Beigeschmack. Ein Bekenntnis, dass zum Beispiel eine Strategie auf alten Ideen basiert, käme deren politischem Todesurteil gleich. Also: Ein neues Denken ist gefragt.

Aber mit der Frage „Was ist das neue Denken?“ wird es uns nicht anders gehen als den Blinden, die gebeten werden, einen Elefanten zu beschreiben. Je nachdem, welche Stellen die tastenden Hände berühren und wie sich die einzelne Versuchsperson artikulieren kann, fällt das Ergebnis aus: Der Blinde, der ein Bein des Elefanten fühlt, ist überzeugt, dass es sich um einen Baum handele, die Person, die das Ohr fühlt, erkennt darin den Fächer, und der Schwanz führt zur Vermutung, es handele sich beim Elefanten um ein Seil. Jeder hat auf seine Weise Recht, und dennoch erfasst keiner von ihnen das Gesamte.

Wenn wir das Bild vom Elefanten auf unsere Thematik übersetzen, kommen wir zu typischen Denkfallen, die dazu führen, dass unsere Entscheidungen meist alles andere als „rational durchdacht“ sind.

1. Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Selbst bei einfachen Problemen überfordert die Masse der verfügbaren Daten das menschliche Bewusstsein – es trifft eine Auswahl.

2. Allerdings ist diese Auswahl oft nicht durch die Sachlage bestimmt, sondern durch Denkstrukturen: Wir überschätzen zum Beispiel bestätigende und erwünschte und bevorzugen anschauliche Informationen.

3. Der Denkapparat trennt kaum zwischen zufälligen und nicht zufälligen Ereignissen: Er sieht Zusammenhänge, wo keine sind, erkennt sie nicht, wo sie nicht offensichtlich sind.

4. Nichtlineare Beziehungen sind schwer einschätzbar. So überbewerten wir häufig neueste Trends oder überschätzen die Stabilität längerfristig beobachteter Ereignisse.

5. Die Erfahrung ist ein subjektiver Lehrmeister. Unser Verhalten wird meist als „optimal angepasst“ interpretiert, wir unterscheiden nicht zwischen Fähigkeiten und Glück – eine gefährliche Illusion der Kontrolle geht damit einher.

Unterscheidung zwischen altem und neuem Denken ist folglich oft fragwürdig, zumal die Voraussetzungen zur Unterscheidung kaum transparent sind, etwa Perspektiven, Interessen und Opportunitätskosten der Personen oder Institutionen, die die Unterscheidung vollziehen.

Damit kommen wir zu unserer ersten These: Heute steht einer Vielfalt von Denkansätzen ein Mangel an Fähigkeiten und Möglichkeiten, manchmal auch an Willen gegenüber, andere Ideen und Standpunkte in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Ein aktuelles Beispiel sind die in der Öffentlichkeit zum Thema Globalisierung geführten Meinungskämpfe, symbolisiert durch das Weltwirtschaftsforum in Davos und das Weltsozialforum in Porto Alegre beziehungsweise Bombay. Die Existenz der unterschiedlichen Sichten ist nicht problematisch. Im Gegenteil, sie bietet eine Chance zu deren Weiterentwicklung. Stattdessen aber hat das Spannungsfeld Globalisierung zu einer extremen Politisierung und Polarisierung geführt, bis hin zur Kriminalisierung ihrer Gegner wie ihrer Befürworter. Im Ergebnis kommen wir deshalb oft über medial inszenierte Auseinandersetzungen nicht hinaus. Diesem vordergründigen Konfliktszenario beugt sich auch immer öfter das politische Entscheiden und Handeln. Ein Tatbestand, der angesichts des folgenreichen Charakters des komplexen Themas Globalisierung völlig unangemessen ist.

Mit dem Begriff Komplexität hängt unsere zweite These zusammen: Komplexität wird heute häufig mit der überbordenden Vielfalt an Phänomenen verwechselt. Das vorherrschende Gefühl von Unsicherheit ist oft eine Folge dieser Verwechslung. Sinnliche Gewissheit führt oft zum begrifflichen bzw. konzeptionellen Trugschluss. So wird die Aussage „Die Sonne geht im Osten auf“ alltäglich durch unsere Sinne bestätigt, obwohl wir wissen, dass sie im naturwissenschaftlichen Sinne weder auf- noch untergeht. Wir würden also zu falschen theoretischen Schlussfolgerungen gelangen, nähmen wir die sinnliche Gewissheit zum Ausgangspunkt entsprechender Theorien.

Zum Zweiten bilden umgekehrt Theorien selbst einen entscheidenden Baustein dafür, sehen und erkennen zu können. Deshalb ist die permanente Arbeit an, kompetitiven, Theorien unabdingbare Voraussetzung, in unserer komplexen Welt der Phänomene Neues zu entdecken, Bekanntes neu zu ordnen, den Geltungsraum unserer Theorien immer wieder neu auszuloten.

Doch haben wir Theorien, die uns helfen, Phänomene wie „Globalisierung“ oder „Fundamentalismus“ besser zu verstehen? Vielleicht müssen wir uns wieder mehr sinnstiftende Erzählungen erarbeiten, die Ansätze zum Verständnis der Phänomenvielfalt liefern und gleichzeitig Raum für Interpretationen schaffen. In engem Zusammenhang mit den Theorien steht auch unser Umgang mit Begriffen.

Hierauf bezieht sich unsere dritte These: Wir müssen uns wieder mehr um die Bedeutung der von uns be- und genutzten Begriffe kümmern. So wie es nötig ist, die Dominanz der Phänomene über Theorien zu brechen, ist es vor dem Hintergrund der heutigen Schlagwortkultur umgekehrt nötig, statt mit immer neuen Begriffen und Wortspielen kurzfristige Scheinveränderungen zu inszenieren, mehr Gewicht auf die Diskussion der Bedeutung verwendeter Begriffe zu legen. Das gilt insbesondere für fundamentale Begriffe, die für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaften und Institutionen von hoher Bedeutung sind.

Beispiel Wirtschaft: In der einschlägigen Literatur steht der Begriff Wirtschaft für den rationalen Umgang mit knappen Gütern, also mit Gütern, bei denen der Bedarf deren Vorhandensein übersteigt. Doch was bedeutet das konkret? Handeln Menschen rational? Worin zeigt sich ein „rationaler Umgang mit knappen Ressourcen“? Ist die Metapher „knappes Gut“ angemessen, um moderne Konsumgütermärkte in den Industriegesellschaften zu beschreiben? Wenn unsere Begriffe in einer Art ewiger Gültigkeit „kristallisieren“, ist das letztlich Zeugnis dafür, dass auch unsere Gedanken kristallisiert sind. Statische, enthistorisierte Begriffe und Gedanken sind der Dynamik des gesellschaftlichen Lebens unangemessen.

Welche Konsequenzen können wir aus diesen Überlegungen ziehen? Wir suchen im Folgenden nach Antworten in drei Bereichen, die mit der Entwicklung von Perspektiven zu tun haben: Unsere Zukunftsvorstellungen; die Bedeutung von Sozialutopien sowie die nötige Rückkehr des Menschen als verantwortlichem und gestaltendem Akteur.

Zukunftsvorstellungen sind ein Ausdruck der sozialen Wirklichkeit und deshalb immer gegenwärtige Vorstellungen. Wir erfahren aus ihnen nichts über zukünftige Realität. Unser Suchfeld bezüglich künftiger Entwicklungen ist, oft unbemerkt, stark geprägt durch die tief liegenden Paradigmen der Gegenwartskultur und des Zeitgeistes. So verwundert nicht, dass viele Vorstellungen über unsere künftige Gesellschaft in Ermangelung alternativer Konzepte in ökonomischen Kategorien wurzeln. Es geht um internationale Wettbewerbsfähigkeit und Standortinvestitionen, Unternehmenswerte werden in Aktienkursen ausgedrückt und Menschen als Humankapital vermessen. Die Kategorie Fortschritt verweist heute im Wesentlichen auf technische und ökonomische Aspekte, wir leben unter einem technologisch-ökonomischen Fortschrittsparadigma, das wie eine Naturgewalt erscheint, an die man sich anpassen muss, um nicht daran zu Grunde zu gehen. Wir scheinen in Sachzwängen zu leben. Doch wo alles automatisch abläuft, besteht keine Notwendigkeit zur bewussten und verantwortlichen Einflussnahme. Und: Wo alles automatisch abläuft, sind auch keine Ziele nötig, keine Visionen darüber, wohin „wir“ die Welt weiterentwickeln möchten.

Wir erinnern an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, die im Labyrinth nicht weiter weiß und die Katze fragt: „Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus am besten weitergehe?“ Die Antwort der weisen Katze bringt es auf den Punkt: „Das hängt davon ab, wo du hin willst.“ Bevor wir aktiv daran gehen, die Zukunft zu gestalten, müssen wir unsere Ziele formulieren. Dabei ist eigenartig, dass wir das, was wir im Technischen oder Materiellen heute als selbstverständlich annehmen, nämlich dass die Grenze zwischen Möglichem und bisher Unmöglichem jeden Tag überschritten wird, für gesellschaftliche Utopien nicht zulassen. Einer Vielzahl an neuen Produktideen, Technologien und Geschäftsmodellen steht ein Mangel an neuen Ideen für unsere Gesellschaften gegenüber. Gesellschaftliche Utopien sind nicht in Mode.

Dies führt uns zu unserer vierten These: Unser Suchfeld für Innovation und Fortschritt muss erweitert werden, vom derzeitigen technischen und ökonomischen Fokus hin auf das breite Feld sozialer Innovationen. Wir brauchen wieder den Mut zur Formulierung von Sozialutopien. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen stellt hierzu zwei wichtige Fragen: Was soll (soziale und wirtschaftliche) Entwicklung bewirken? Und unter welchen Voraussetzungen findet erfolgreiche Entwicklung statt? Seine Antwort in allgemeiner Form lautet: Entwicklung ist die Ausweitung menschlicher Freiheiten, verstanden als stetiger Aufbau realer Wahlmöglichkeiten. Voraussetzung ist, und das gehört als Kernelement zu dieser utopischen Zukunftsvision, der größten Zahl größtmögliche Lebenschancen zu eröffnen.

Diese abstrakte Antwort birgt Zündstoff. Für die meisten Menschen dieser Welt nehmen die realen Wahlmöglichkeiten seit langem nicht zu, sondern im Gegenteil ab. Es ist kein Zufall, dass der Inder Amartya Sen die Ausweitung realer Wahlmöglichkeiten in seinen Überlegungen zur Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme betont. Indien ist eines der vielen Länder, in denen die Liste kommender Problemfelder schon heute augenfällig ist: Armut, Hunger, ungenügende Chancen auf Bildung und Qualifikation, zunehmende sozioökonomische Differenzen etc.

All das hat unter den Bedingungen der Globalisierung immer mehr mit uns zu tun. So zeigt die Tatsache, dass man in Tiruppur, dem „indischen Manchester“, an den Schlieren im Fluss die Farben kommender Kollektionen in Europas Modehochburgen erkennt, die zunehmende Vernetzung der internationalen Wirtschaft mit informellen Wirtschaftsstrukturen und Arbeitsverhältnissen.

Spätestens hier müssen wir den Schritt vom Denken zum Handeln tun, und fragen, wie wir in den international verwobenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Ideen und Konzepte angemessen umsetzen können. Es geht um Governance im Sinne der Frage: Wer ist in der Lage, konsistente Zukunftsvorstellungen zu entwickeln und durchzusetzen? Nach 50 Jahren Systemtheorie hat sich die Erkenntnis systemischer Komplexität breit durchgesetzt. Ob internationale Politik, globale Wirtschaft, Weltklima: Alles hängt mit allem zusammen. Doch vielleicht gerade deshalb wächst in der Gesellschaft das Bedürfnis nach Transparenz und Orientierung, die Sehnsucht nach konkret handelnden Menschen, an denen Visionen und Verantwortung festzumachen sind. Deshalb ist der Boden fruchtbar für schlichte Formeln wie „Kampf des Guten gegen das Böse“, die daherkommen, als wüssten wir alle, was denn das Gute und was das Böse sei.

Das Zusammenspiel von systemischer Komplexität und technisch-ökonomischem Reduktionismus hat Risiken erzeugt. So besteht die Gefahr, dass wir uns bequem einrichten in der allgemeinen Dynamik und konstatierten Komplexität: Was immer heute der Fall ist, es ist nicht bedeutend, denn morgen ist es schon anders – und besser nichts tun, denn die Folgen sind nicht kalkulierbar. Der Mensch, als selbstbewusst handelndes Wesen ausgestattet mit mehr oder weniger Entscheidungsfreiheit und Verantwortung, scheint verloren zu gehen. Ob Gentech, Wirtschaftspolitik oder Bildung, die Entscheidungen folgen implizit meist einer „Benchmark-Logik“: „Wir müssen das tun, damit wir im Wettbewerb nicht zurückfallen“, „Die machen das, wir müssen es auch tun“ etc. Damit folgen die Entscheidungen systemintern vorgegebenen Sachzwängen, und die Menschen werden so zu Erfüllungsgehilfen, die nach Mitteln suchen, diese systemischen Vorgaben zu erreichen.

Was dagegen fehlt, sind authentische Aussagen realer Menschen über die jeweiligen Vorstellungen anzustrebender Ziele. Oder wie Odo Marquard es formuliert hat: „Die neue Welt kann nicht sein ohne die alten Fertigkeiten. Menschlichkeit ohne Modernität ist lahm; Modernität ohne Menschlichkeit ist kalt: Modernität braucht Menschlichkeit, denn Zukunft braucht Herkunft.“ Deshalb lautet unsere fünfte These: Im Bewusstsein der Ambivalenz von Personalisierung gilt: Die verantwortlich handelnde Persönlichkeit muss wieder erkennbar werden, und zwar in ihrer Rolle im System.

Welches Fazit können wir ziehen? In jedem Fall sollten Zukunftsplanung und -gestaltung als diskursiver Prozess organisiert werden, in dem soziale Innovationen einen festen Platz haben. Dabei geht es nicht um altes oder neues, sondern um anderes Denken, in dem drei Elemente zusammenfinden müssen: Abkehr von Schlagwortgefechten und gedankliche Erweiterung und Vertiefung der Diskurse; Akzeptanz von Alternativen statt des Glaubens an Sachzwänge; Mut zu sozialutopischen Geschichten, in denen nicht nur Abstraktionen, sondern Vorstellungen über reale Lebensbedingungen von Menschen einen wesentlichen Platz haben.