„Vielleicht ändert sich ja was“

Christian Schröder mag keine Demonstrationen, bei denen die Leute fröhlich sind

Um 10.05 Uhr besteht der sichtbare Teil der Ortsgruppe Spremberg nur noch aus vier älteren Menschen in Windjacken, die sich scheu auf einer Verkehrsinsel drängen. Der Alexanderplatz ist zu einem unüberschaubaren Gewühl aus roten Mützen, dröhnender Rockmusik und Luftballons geworden. Ein irgendwie zu groß geratener Betriebsausflug, wenn man aus der Kleinstadt Spremberg in der Lausitz kommt, jetzt mitten in Berlin in einem Demonstrationszug steht und den Anschluss an seine Gewerkschaft nicht findet. Eine Massenveranstaltung, gegen die man nicht ankommt.

Es ist der 68-jährige Ortsgruppenfunktionär Karlheinz Bärsch, der sich als Erster fängt: Bärsch zündet sich eine Zigarette an, guckt ins Gedränge, raucht und schweigt. Dann macht er ein Foto von Christel und den beiden anderen Sprembergern. Er sagt: „Tja, die Kollegen ham wa verloren.“

Um sieben Uhr heute früh sind sie aus Spremberg losgefahren, 50 Mitglieder der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IGBCE), ein ganzer Reisebus voll zur Demonstration gegen Sozialabbau in Berlin. Karlheinz Bärsch findet, die Agenda 2010 ist totaler Humbug! Die muss weg! Und in etwa stimmt das mit dem überein, was der übergewichtige Ver.di-Vertreter, der nun oben auf der Rednertribüne steht, gerade in sein Mikrofon ruft.

Bärsch klatscht und nickt, er war früher Schlosser in einem Kraftwerk, jetzt ist er Rentner. Wir Gewerkschafter halten zusammen, erklärt er. Seine Freundin Christel nestelt eine Banane aus ihrem Stoffbeutel.

In Spremberg kümmert sich Bärsch um die Gewerkschaftszeitung, er organisiert Ausflüge für die Ortsgruppe, er bucht die Kapelle für den Tanz in den Mai. Man kann sagen: Die IGBCE ruht als ein fester Bestandteil im Leben von Karlheinz Bärsch. Und trotzdem bleibt die CDU die Partei, die ihm am besten gefällt. Es mag ein Widerspruch sein, dass Bärsch mit Politikern sympathisiert, die die Sozialleistungen in diesem Land stärker beschneiden wollen als die Regierung, gegen die er gerade protestiert. Aber das ist ein Gegensatz, den Bärsch in diesem Moment auch nicht auflösen kann. Er weiß nur: Wenn die Agenda 2010 durchkommt, geht es uns allen schlechter. Der Demonstrationszug schleppt sich voran, um 12 Uhr 20 haben Bärsch und seine Freundin Christel die beiden anderen Spremberger auch noch verloren.

Auf einmal gibt es eine ungeordnete Bewegung. Vor ihnen kommt ein rot und schwarz angemalter Lautsprecherwagen zum Stehen. Auf dem Wagen zappelt eine aufgeregte Frau, sie schreit in ein Megafon: Bullen, verpisst euch! Die beiden Spremberger sind plötzlich von vielen schwarz gekleideten, jungen Leuten umgeben, Polizisten mit Helmen traben heran, die Frau schreit weiter. Sie wird immer lauter. Chaoten, sagt Christel. Sie fasst Bärsch bei der Hand, sie laufen jetzt schneller.

Ein paar Meter weiter, hinter einer Polizeiabsperrung, ist es wieder ruhig. Aber irgendwie ist nach dieser kleinen Aufregung die Luft raus. Christel ist erschöpft, Bärsch tut die Hüfte weh, das Brandenburger Tor, wo die Abschlusskundgebung stattfindet, ist noch weit. Bärsch fragt: Kann man hier irgendwo Kaffee trinken?

Um 13 Uhr 20 verlagern der Ortsgruppenfunktionär Karl-Heinz Bärsch und seine Freundin Christel aus Spremberg ihren Protestzug in ein Berliner Straßencafé. Ich denke, das hat schon was bewirkt hier, meint Bärsch zum Demonstrationsverlauf, er guckt auf die Uhr. Um 16 Uhr geht ihr Bus zurück nach Hause.

KIRSTEN KÜPPERS

Es ist ihre erste Demo, und sie ist ein bisschen aufgeregt – wie eine Teenagerin vorm Rockkonzert. Cornelia Fuchs hat etwas gesucht, woran sie sich festhalten kann. Und sie hat die Demo gefunden. Und ein rotes Käppi vom DGB. Sie hat es nicht aufgesetzt, sondern an die Handtasche geschnallt. Jetzt klammert sich die 49-Jährige daran, während ihr die rot-weißen Gewerkschaftsflaggen um die Ohren wehen.

Sie wäre sicher nicht zur Protestkundgebung auf den Breitscheidplatz gekommen, wenn sie noch Arbeit hätte. Obwohl es gar nicht so weit ist von ihrer Charlottenburger Wohnung aus. Es hat genug Überwindung gekostet, am Samstagmorgen dann tatsächlich loszugehen. So ganz alleine. Aber von ihren Freunden und Bekannten hat sich niemand überreden lassen. „Bringt ja eh nichts“, haben die gesagt. „Es kann nichts passieren, wenn man nichts tut“, hat sie geantwortet.

Sie ist froh, dass sie es getan hat. Dass sie gegangen ist. Es gefällt ihr, wenn Ursula Engelen-Kefer, die DGB-Frontfrau, auf der Bühne gegen unzumutbare Zumutbarkeitsregelungen wettert. Cornelia Fuchs’ persönliche Zumutbarkeitsgrenze ist längst überschritten. Vor etwa drei Jahren hat sie zum letzten Mal als Industriekauffrau gearbeitet. Sollte sie bis Januar keinen Job finden, wird sie von Sozialhilfe leben müssen. Und eine kleinere Wohnung suchen.

„Vielleicht ist das hier ein Zeichen, dass die Menschen doch ein bisschen zusammenhalten“, sagt sie. Vielleicht muss man es abstrakt versuchen, wenn es konkret nicht funktioniert. Mit alten Werten, dann kommen die neuen Jobs schon: „Mehr Menschlichkeit, nicht immer nur ich, ich, ich denken“, sagt Cornelia Fuchs, während Engelen-Kefer Urlaubsgeld und Krankengeld einfordert. „Darauf würde ich verzichten“, sagt sie.

Sie fühlt sich nicht mit allem wohl, was sie hört und sieht. Die vielen Plakate, die „Schröder muss weg“ fordern, sind ihr zu radikal. Eigentlich steht sie der SPD nahe. Eine CDU-Regierung, was würde die schon ändern? Ein bisschen zu bunt wird es ihr auch am Brandenburger Tor, wo der Protestmarsch sich zum Volksfest mit Bier, Bratwurst und Prinzenpop wandelt: „Kundgebung und Zug fand ich okay. Aber das ist zu viel Rummel.“ Als die Prinzen dann singen, dass man ein Schwein sein muss in dieser Welt und gemein, da lächelt sie ein bisschen und nickt.

Cornelia Fuchs hofft, dass die Demo ein Anfang war. Für sie selbst vor allem. Sie will sich engagieren. Sie weiß nur nicht genau, wo. Nach hunderten von erfolglosen Bewerbungen hat sie einmal wie wild E-Mails geschrieben. An Abgeordnete. Weil so eine Organisation das geraten hatte.

Sie war wütend damals und hat sarkastisch gefragt, ob die Arbeitslosigkeit wohl dadurch gelöst werden solle, dass man die Arbeitslosen in den Selbstmord treibe. Sie hat wirklich darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Wie hieß diese Organisation bloß? „Attac, genau“, sagt Cornelia Fuchs. Vielleicht wird sie es da mal probieren.

JOHANNES GERNERT

Eigentlich wollte Christian im so genannten schwarzen Block mitlaufen. Bei den Antifas, den Autonomen, den Radikalen. Vom Outfit hätte er gut reingepasst. Schwarze Lederjacke, auf dem Rücken mit roter und grüner Farbe besprüht, und mit einem Aufnäher „Hau weg den Scheiß“ mit einem zerschlagenen Hakenkreuz verziert. Auf dem linken Ärmel der Jacke ein rotes „A“ für Anarchie, am Kragen Sticker von Punkbands.

Doch der 21-Jährige mit den Sommersprossen ist am Tag der Demonstration „Aufstehn, damit es endlich besser wird“ nicht mit Punks unterwegs. Mit ein paar Kumpels hat er in der Nacht zuvor gefeiert und getrunken, und die zogen es vor auszuschlafen. Christian nicht. Er ist, ohne ein Auge zugemacht zu haben, zum Alexanderplatz gekommen, wo sich einer der drei Demonstrationszüge sammelt. „Das ist besser, als zu Hause zu sitzen und sich zu beschweren, dass alles Scheiße ist“, sagt er. Also hat er sich mit anderen Freunden getroffen. Sie sind von „Regenbogen“, einem gemeinnützigen Verein zur Förderung von Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern in Berlin-Spandau. Dort gibt es Kaffee für 30 Cent und Hilfe bei Ämtergängen. Christian lebt von 265 Euro Sozialhilfe plus 60 Euro, die er mit Sozialarbeit verdient. Mit 15 ist er von zu Hause abgehauen, hat die Schule geschmissen und wohnt jetzt bei einem Kumpel. „Wenn gespart werden muss“, sagt er, „dann nicht bei Gesundheit, Bildung und den Armen.“ Und: „Sozialhilfeempfänger sollen nicht als faules Pack dargestellt werden.“

Als sich der Demonstrationszug gegen halb zwölf in Bewegung setzt, trägt Christian mit am Transparent, das jemand von „Regenbogen“ gemacht hat. „Uns geht’s zu gut. Sozialabbau, aber richtig. Keine halben Sachen“, heißt es da. Auch er kann sich einen zynischen Kommentar nicht verkneifen. „Ich hoffe, dass es den Leuten noch schlechter geht“, sagt er. „Je unzufriedener sie sind, umso mehr gehen auf die Straße.“ Das letzte Mal war er im November vergangenen Jahres demonstrieren. Auch gegen Sozialabbau. „Eigentlich müsste es jede Woche so eine Demo geben“, meint er.

Aufmerksam schaut Christian seine Mitdemonstranten an, vorwiegend ältere Frauen und Männer, viele in der Gruppe mit der Gewerkschaft. Im Antifa-und Autonomenblock würde er sich sicher besser aufgehoben fühlen. Aber er sucht keinen Spaß, keine Randale. Einiges, das er um sich herum sieht, gefällt ihm überhaupt nicht. Zum Beispiel die fröhlichen Menschen, die zur Erinnerung Fotos mit wehenden Fahnen machen. „Eine Demo, wo die Leute lachen, da kann was nicht in Ordnung sein“, sagt er. Auch die Bühnenprogramme drum herum findet er nicht gut. „Das ist so Kommerz. Aber anscheinend braucht man das, um die Massen anzulocken.“

Am liebsten wäre Christian sowieso eine Demonstration, die vor dem Kanzleramt endet. „Dorthin, wo die Politiker uns hören können. Hier haben alle die gleiche Meinung. Das stört doch keinen.“ Christian hatte sich „gefreut“, als Gerhard Schröder Kanzler wurde. „Weil der besser ist als Stoiber.“ Doch dann habe Schröder seine Wahlversprechen gebrochen.

Viele Demonstranten vor Christian fordern auf Transparenten „Schröder muss weg“. Das ist lustig. Denn Christians Nachname ist auch Schröder. „Es wäre nicht schlecht, wenn ich gemeint wäre“, sagt er mit einem müden Grinsen, „dann wäre ich ein wichtiger Mann.“ Nein, außer demselben Familienname verbinde ihn nichts mit Gerhard Schröder. Doch Halt! Christian Schröder fällt doch etwas ein. „Wir haben beide eine Nase.“ Und in Hannover hat er auch mal gelebt. BARBARA BOLLWAHN