berliner szenen Kirchentag (II)

Erbsünde abgeschafft

Als ich vom Brötchenholen nach Hause komme, sitzen meine beiden Kirchentagsgäste mit einer akkurat gescheitelten Blondine und einem breitschultrigen Begleiter in der Küche. Sie stellt sich als Reporterin, er als Fotograf einer bekannten Boulevardzeitung vor. Sie wollen einen Bericht über eine ganz normale Berliner Familie schreiben, die Kirchentagsbesucher einquartiert hat.

„Warum haben Sie denn einen Gast bei sich aufgenommen?“, fragt die Blondine zuerst meine Gäste. Da die nur ratlos in meine Richtung blicken und mit den Schultern zucken, wendet sich die Reporterin an mich: „Fühlen Sie sich in der fremden Umgebung wohl?“ Nach kurzem Überlegen antworte ich: „Ja. Ich habe wirklich Glück, bei einem so netten Ehepaar untergekommen zu sein.“ Die Sache beginnt mir Spaß zu machen. Obwohl ich schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten bin, beschließe ich, heute mal als eifrige Christin und Fan der Ökumene aufzutreten, die Fürs und Widers der katholischen bzw. der protestantischen Kirche und die daraus resultierenden Vorteile des Kirchen-Zappings zu diskutieren. Als Vegetarierin störe mich der katholische Glaube sehr, nach dem man im Abendmahl den Leib Christi verspeise, erkläre ich. Andererseits habe mich beeindruckt, dass die katholische Kirche gestern versprochen habe, den Papst abzuschaffen und die Kunstschätze des Vatikans Robin Wood zu stiften. Die evangelische Kirche habe dagegen die Erbsünde für überholt erklärt und wolle nun zeitgemäßere Themen als poppige Bühnenshow mit Lichteffekten, Ausdruckstänzern und allem auf die Kanzeln holen. Als die Journalisten abziehen, habe ich mich warm geredet und bin mir sicher: Morgen trete ich wieder in die Kirche ein. ANNETTE KAUTT