Der Schleier der Kunst

Dem mechanischen Produkt Empfindung einhauchen: Im Deutschen Centrum für Photographie in der Kunstbibliothek wird „Kunstfotografie um 1900“ gezeigt, die Fotosammlung des Fotografen und Ausstellungsorganisators Fritz Matthies-Masuren

von MICHAEL NUNGESSER

Eine elegische Landschaftsansicht und ein dramatischer weiblicher Rückenakt bilden das Entree zur Ausstellung. Beides sind Fotografien, obgleich sie eher wie ins Grafische umgesetzte Gemälde von Böcklin oder Stuck aussehen. „Motiv am Gardasee“ von Paul Pichier und „Dolor“ von Edward Steichen gehören der „Kunstfotografie um 1900“ an, einer fotografischen Richtung, die damals Furore machte, bevor sich Archivtüren wie Sargdeckel über sie senkten. Die Verkunstung der Fotografie durch Edeldruckverfahren wurde durch das Neue Sehen gründlich diskreditiert und als Irrweg verurteilt. Aus historischem Abstand und im Zeitalter der digitalen Auflösung des Kamerabildes gehen Fotografen heute wieder offener mit Kopierverfahren um. Fotografie und Kunst überschneiden sich mehr denn je.

Solche Gedanken kommen auf, auch wenn die aktuelle Ausstellung des Deutschen Centrums für Photographie in der Kunstbibliothek als reine Bestandsaufnahme Geschichte dokumentiert. Gezeigt wird die Sammlung des Fotografen und Ausstellungsorganisators Fritz Matthies-Masuren (1873–1938), des vehementesten publizistischen Verfechters der Kunstfotografie in Deutschland, Autor des Buches „Bildmäßige Photographie“ von 1903 und langjähriger Redakteur fotografischer Fachzeitschriften. Seine Sammlung war erstmals 1914 in der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums ausgestellt worden, aus der die heutige Kunstbibliothek hervorging. 1924 kaufte man die als Leihgabe aufbewahrten Fotos an. Eine Vitrine im Foyer der Ausstellung erinnert daran: Sie enthält einen „Winkel in Rothenburg“ von Albert Meyer, abgezogen in sechs Verfahren: Gummi-, Platin- und Öldruck, auf Kollodium- und Silbergelatinepapier.

Eine Farblithografie und zwei Pastelle mit Landschaften verweisen darauf, dass Matthies-Masuren Kunst studiert hatte. Doch früh wandte er sich der Fotografie zu, auch hier vor allem Landschaft und Porträt. Vieles davon findet sich in Zeitschriften, seine Sammlung enthält dagegen ausschließlich Werke anderer. Die von der Arts-and-Crafts-Bewegung angeregte, Jugendstil und Symbolismus verwandte Kunstfotografie zielte vor allem auf den ambitionierten Amateur. Er solle mit gleichsam handwerklichen Arbeitsweisen dem mechanischen Produkt Empfindung, Gefühl und Stimmung einhauchen. Die Kunstfotografen, resümiert Matthies-Masuren, „haben ihre einzigen Vorbilder in der Natur und den Werken bildender Künstler gesucht, sie haben die photographische Schärfe, die klare und störende Zeichnung der Einzelheiten verschwinden lassen und damit die einfache große Erscheinung erreicht“. Mit Unschärfen, Weichzeichnen, Tönen, Kolorieren erscheint die Welt hinter dem Schleier der Kunst wie eine Traumlandschaft, weit entfernt von Problemen der Zeit.

So nehmen denn auch Naturansichten den breitesten Raum ein: idyllische Wiesen und Wälder in der Dämmerung oder im Schnee von Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Hans Watzek, Bilder fast religiöser Ergriffenheit wie „Jungfraumassiv“ von Alfred Stieglitz und „Dirge in the Woods“ von Fredrick Henry Evans (dessen Kathedralenräume zu den wenigen Architekturbildern zählen). Daneben stehen malerische Genreszenen wie „Kirchgänger“ von Oscar und Theodor Hofmeister, „Am Kamin“ von Dwight A. Davis und „Stiller Winkel“ von Henneberg. Stillleben bleiben vereinzelt, etwa ein „Blumenstück“ von Sherril Schell oder ein Memento mori mit Totenkopf von Watzek. Nur selten tauchen auch Großstadt und moderne Arbeit auf, dekorativ entrückt wie die „London Bridge“ von Alvon Langdon Coburn oder „Dampfer im Dock von Southampton“ von Frank H. Read. Porträts neigen zum Typisieren, etwa „A Lady in Brown“ von James Craig Annan oder „Tiroler Bauer“ von Kühn.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Kunstfotografie ihren Zenit überschritten. Das Nostalgische und Heimattümelnde nahm überhand, und sie dümpelte in den Zwanzigerjahren in trüben Gewässern dahin. Dass Matthies-Masuren die Zeichen der Zeit erkannte, belegen seine Beiträge in den von ihm betreuten Fotozeitschriften. Aufnahmen in Vitrinen des Foyers von Aenne Biermann, André Kertész und Helmut Lerski, die ähnliche Themen neu sehen, verweisen auf seine Offenheit. Doch nach 1933 gibt es kaum noch schriftliche Zeugnisse von ihm. Die Konturen seines Lebens verschwimmen nun ähnlich wie die Gegenstände der Kunstfotografie, die er gefördert hatte.

Bis 15. Juni, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa./So. 11–18 Uhr; Deutsches Centrum für Photographie und Kunstbibliothek am Kulturforum, Matthäikirchplatz, Tiergarten. Katalog 29 €