Das dreckigste Dutzend

Was braucht es im Sommer? Nagelneue Epik oder: noch mehr Bauarbeiterprosa

Mit einem Mal waren die vielen Jahre der Vorwürfe und der Verbitterung wie zerronnen

„Sie wollen was, Herr Direktor?“ Jack von Wecker spürte eine Gänsehaut, die sich bis zu seinen Fußknöcheln zog. „Wir müssen auf der Cuxhavener Straße beidseitig die Kanalisation renovieren.“ Die Stimme von Jost Thier, des legendären Patriarchen, klang wie ein frisch geschliffenes Reibeisen. „Sie meinen …“ Der Ingenieur keuchte die Worte: „Ich meine … Sie meinen … die … B 73?!“ – „Ja.“ Direktor Thier räusperte sich. Unwirsch und doch auch geduldig. „Zwischen Neuwiedenthal und Neugraben. Ein Abschnitt von gut fünfzehn Metern. Vierspurige Kreuzung. Das Gewerbegebiet ist zu groß geworden in den letzten Jahren. Die Zentralrohrmuffen halten den Anforderungen nicht länger stand. Da muss was passieren!“

Bilder huschten durch den Kopf von Weckers wie Blitze, plötzlich juckte die riesige Narbe quer über seinem Rücken wie verrückt – und er duckte sich, als raste wieder jene mächtige Lkw-Felge auf ihn zu, die ihn damals wie ein Schrapnell gestreift hatte. Bundesstraße 73 … Hundert blutige Kilometer von Hamburg nach Cuxhaven! Die tödlichste Route der Republik. Einen kompletten Bautrupp hatte er vor zehn Jahren dort verloren. Und Maria … All die Menschen, die er geliebt hatte … Maria! Zerschmettert unter Kieslawinen, zermalmt von rasenden Blechbomben, erstickt in kochendem Kohlenmonoxyd. Jack hatte gehofft, nie wieder seine Männer diesem Inferno aus quietschendem Gummi und bebendem Asphalt ausliefern zu müssen. Verzweifelt flüsterte er ins Handy: „Warum … ich?“ – „Mein lieber Onkel Doc …“, Thiers Stimme hörte sich zugleich väterlich und stählern an, als er den Necknamen aussprach, den Jack vor einer Ewigkeit, bei der Ausschachtung des Bornkampswegs, verpasst bekommen hatte. … „mein lieber, lieber Onkel Doc, wer wäre denn besser geeignet für diesen Job als Sie?“ – „Aber“, von Wecker rang mit den Worten, „aber Sie wissen doch, dass ich damals ein Vierteljahr ausgefallen bin. Und dann die traumatischen Störungen …“ – „Schnickschnack!“, unterbrach ihn der Direktor. „Sie haben letztes Mal mit Leuten gearbeitet, arbeiten müssen, die für die Sache nicht den rechten Schneid hatten. Diesmal dürfen Sie sich die Besten aussuchen!“ – „Wie …?“ – „Ich habe alle Vollmachten beim Tiefbauamt erhalten. Die finden einfach keine Firma, die in der Hölle da unten ihre verdammte Pflicht erfüllen will. Unser Betrieb hat noch nie gekniffen. Sie wissen es.“ Direktor Thier sprach unvermittelt sanfter und wärmer: „Jack, es gibt keinen, der mit diesem Auftrag besser klarkäme als Sie. Ich hätte genauso abgelehnt wie die anderen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie die Sache in den Griff bekommen können.“

Der Ingenieur hatte das seltsame Gefühl, neben sich selbst zu stehen, als er in schleppenden Worten sagte: „Aber … Maria … der Betonrost … haben Sie vergessen, wie ich damals …“ Der Direktor schwieg lange. Die Satellitenleitung knisterte. Es war wie das Geräusch von Wolken, die aneinander vorüberstreifen. Maria Diana Thier! Die immer fröhliche, wunderschöne Maria mit der widerspenstigen rabenschwarzen Mähne, dem blitzenden Lächeln, den verheißungsvollen Lippen. Sie war des Direktors Mündel, der Sonnenschein der „ThieTiBa“, nie um ein heiteres Wort verlegen, ein leuchtender Stern, patent wie ein alter Maschinenschlosser und unschuldig wie ein Rehkitz. Alle liebten sie, wenn sie in einem Blaumann, der ihr zwei Nummern zu weit war, in dem ihre vollkommenen Formen sich dennoch herrlich abzeichneten, auf der Baustelle erschien und Kaffee und Mettbrötchen verteilte! Niemand jedoch liebte sie so sehr wie Jack von Wecker. Die Hochzeit, das eigene Heim, sogar die Tapeten fürs Kinderzimmer waren schon geplant, als die Katastrophe hereinbrach. Und Schuld trug die verfluchte B 73! Jack, vom Morphium paralysiert, rang damals im Hospital um sein Leben gegen die klaffende eiternde Wunde, die sich von den Schulterblättern bis zum Steißbein zog. Maria wollte den Männern, die ohne ihren „Onkel Doc“ wie gelähmt herumhockten, Mut zusprechen. Doch die Tränen, die Maria um den Verlobten weinte, machten sie blind für die Notampel vor dem Bauplatz. Der Betonstahl fraß sich durch die Windschutzscheibe ihres Autos und gleich danach – tief hinein in ihr reines Herz. Sie war auf der Stelle tot. Immerhin hatte sie nicht lange leiden müssen.

Ein bitterer Geschmack erfüllte den Mund von Weckers wie ein essiggetränkter Schwamm. „Maria …“, sagte Direktor Thier langsam. Der Schmerz in seiner Stimme war nicht geheuchelt. „Nein, nein, Jack! Ich habe nichts vergessen. Nichts!“ Mühsam fand der Patriarch zur gewohnten Autorität zurück: „Aber wir sind es ihr schuldig, gerade ihr, jetzt nicht klein beizugeben. Wenn wir die B 73 besiegen, dann tun wir das auch für – sie!“ Jack atmete schwer. Tränenerstickt flüsterte er in das Mobiltelefon: „Sie haben … – du, Jost, hast Recht!“

Mit einem Mal waren die vielen Jahre der Vorwürfe und der Verbitterung wie zerronnen. Das Leid der beiden Männer hatte sie einander entfremdet. Nun aber, da es eine Chance gab, Marias Andenken mit Taten zu ehren, fanden sie wieder zusammen. Der Ingenieur sagte: „Jost … Herr Direktor … du – Sie sprachen vorhin von ‚allen Vollmachten‘. Was soll das bedeuten?“ – „Es gibt ein paar hundert so genannte ‚hoffnungslose Fälle‘ auf dem Arbeitsamt.“ Der Patriarch lachte heiser. „Männer, die immer alles besser wissen als ihre Vorgesetzten. Und sie wissen es wirklich besser. Männer, mit denen einer wie Sie sich gut verstehen sollte! Absolute Cracks. Aber unfähig zum Teamwork. Hasardeure. Haderlumpen. Wir bieten denen das Dreifache des Tarifs. Und eine unkündbare Stellung. Wenn sie sich dafür ein unmenschliches Training gefallen lassen!“ – „Und … die B 73“, erwiderte Jack von Wecker. Seine Zunge schmeckte nach Sandpapier. „Und die B 73. Wenn Sie das Kommando übernehmen, geht sofort ein Rundschreiben an die zuständigen Ämter hinaus. Aus den freiwilligen Kandidaten können Sie sich dann eine Mannschaft zusammenstellen.“ – „Und Sie glauben ernsthaft, dass sich jemand meldet?“ Jost Thier kicherte blechern: „Es gibt da einen alten Spruch. Sie sind noch jung, Sie kennen ihn vielleicht nicht. Ich habe ihn gelernt, als ich mithalf, in der Normandie die Küstenbunker zu betonieren: ‚Lieber schnell sterben als lang leben.‘ Kurzum: Man muss die richtigen Männer nur an der richtigen Stelle packen.“ – „Und“, sagte Jack gequetscht, „Sie glauben, dass ich …. dass ich es kann?“ – „Niemand“, antwortete Thier feierlich, „niemand außer Ihnen.“ – „Verdammt!“, rief Jack. „Ob Sie Recht haben oder nicht – ich bin sowieso am Arsch! Ich werde es tun!“ GERT OCKERT