Im endlosen Strom

Wer in New York zu Fuß gehen kann, kann hier auch Rad fahren. Wer den Strom versteht, hat ein ganz neuartiges Fahrraderlebnis. Ein Zustand höchster Wachheit und Aufmerksamkeit, ein ständiges Agieren und Reagieren, Beschleunigen, Abstoppen, Ausweichen. Rad fahren in New York City

Man wird hier nur angehupt, weil man den Flow des anderen gestört hat

von SEBASTIAN MOLL

Zufußgehen ist in New York eine Kunst. Jedenfalls richtiges Zufußgehen. Man ist Teil eines Stromes, und um nicht hängen zu bleiben, abgetrieben oder überrollt zu werden, muss man ihn spüren, den Strom, auf ihm reiten wie ein Surfer auf der Welle. Wenn man jedoch das Gefühl für diesen Strom entwickelt, wenn man lernt, seine Kraft in sich aufzunehmen, kann man fast transzendentale Augenblicke der Einheit erleben, mit dem Verkehr, mit der Stadt und mit allen Menschen, die hier leben.

Der New Yorker ist wie ein Hai, wenn er stehen bleibt, stirbt er. Geht man etwa zu Fuß fünf Blocks südlich und drei Blocks westlich, bestimmt der ununterbrochene Fluss die Route. Man geht an jeder Kreuzung über die Straße, über die einem ein grünes Männchen ungebrochenen Laufrhythmus garantiert – entweder Westen oder Süden, so lange, bis es keine Wahl mehr gibt. Auch wenn die Ampel rot ist, geht der New Yorker, so weit er kann, auf die Straße, um dann in der kleinsten Verkehrspause zwischen den Autos hindurchzuschnellen. Oft wird das mit Hupen quittiert, doch das Hupen ist niemals wirklich aggressiv. Man wird nicht angehupt, weil man versucht, durchzuschlüpfen, sondern weil man es nicht ganz schafft und so den Flow des anderen stört. Touristen erkennt man, daran, dass sie den Rhythmus gar nicht spüren und unbeeindruckt vor sich hin schlendern. Nach nur fünf Wochen in New York erwische ich mich dabei, solchen Leuten üble Beschimpfungen zuzuzischen.

Die gleichen Regeln gelten auf dem Rad. Drei, vier Spuren breit sind die Avenues und alle Spuren führen in die gleiche Richtung. Wer sportlich Rennrad fährt, ist nicht langsamer als die Taxis, die die Avenues herunterrollen, und deshalb beanspruchen New Yorker Radfahrer die ganze Breite der Straße, wie die Autos auch. Nur dass sie wendiger sind. Wie die Autos wechseln sie die Spur, fahren zwischen den Autos durch, links, rechts an ihnen vorbei, sodass man niemals stehen bleiben muss. Wer zaghaft ist, hat verloren, wird an den Rand gespült und findet nur schwer wieder zurück.

Wer den Strom versteht, hat jedoch ein ganz neuartiges Fahrraderlebnis. Ein Zustand höchster Wachheit und Aufmerksamkeit, ein ständiges Agieren und Reagieren, Beschleunigen, Abstoppen, Ausweichen, das den Ausdauersport Fahrrad um die spielerischen Komponenten eines guten Tennis- oder Eishockeyspiels bereichert.

Natürlich haben die legendären Fahrradkuriere diesen Sport als eigene Disziplin kultiviert, ihn auf die Spitze getrieben, ihn zum Lifestyle, fast sogar zur Ideologie erhoben. Die Könige der Radkuriere fahren Räder ohne Schaltung, ohne Bremsen und ohne Freilauf. Sie müssen immer weiter treten, können ihr Tempo nur durch Zugabe oder Wegnahme von Druck auf die Pedale leicht verringern oder beschleunigen. Ihr Überleben hängt von ihrem Geschick ab, sich immer weiter durchzuschlängeln, wer versagt, stürzt. Es ist anmutig, wie sie mit unglaublicher Radbeherrschung, Köpfhörer auf dem Kopf und einem breiten Grinsen, das auf Kokain oder Marihuana-Konsum schließen lässt, mit 40, 50 km/h über den Times Square huschen. Der New Yorker Verkehr ist ihr Biotop, sie sind perfekt an diese Umwelt angepasst.

Dass New York eine Fahrrad-feindliche Stadt ist, stimmt nicht. Im Gegenteil. Charly McCorkell, Besitzer von „Bicycle Habitat“, einem Fahrradgeschäft auf der Lower East Side und Leiter von „Transportation Alternatives“, einer Organisation für die Gleichberechtigung der Radfahrer im Verkehr: „Es ist in keiner amerikanischen Stadt so ungefährlich, Rad zu fahren, wie in New York. Nirgends fahren die Autos langsamer und nirgends sind die Straßen breiter.“Man muss es nur verstehen, sich durch diesen Verkehr zu bewegen, und dazu sind die New Yorker ohnehin hervorragend konditioniert.

Als McCorkell in den 60er-Jahren in Manhattan studierte und jeden Tag von seiner Wohnung im Stadtteil Brooklyn an die Uni fuhr, erinnert er sich, seien so etwa ein halbes Dutzend Radfahrer jeden Tag über die Manhattan Bridge gefahren, und das illegal. Er und seine Mitfahrer setzten sich dafür ein, dass eine Fahrradspur eingerichtet wurde.

Mittlerweile fahren täglich rund 1.500 New Yorker mit dem Rad von Brooklyn aus über die Manhattan Bridge zur Arbeit. Aber das Fahrrad hat sich nicht nur als Transportmittel in New York durchgesetzt, sondern auch als Sportgerät. In den 70er-Jahren, so McCorkell, habe es in Amerika einen ersten Rennrad-Boom auf dem Kamm der ersten großen Fitness-Welle gegeben. Dieser habe sich mit dem ersten amerikanischen Tour-de-France-Sieger, Greg LeMond, Ende der 80er-Jahre stabilisiert, mit Lance Armstrong habe er erneut einen Schub bekommen. Der erste Adjutant und wichtigste Helfer von Lance Armstrong, George Hincapie, kommt sogar aus New York. Als kleiner Junge trainierte er in einem alten verfallenen Radstadion seines Heimatstadtteils Queens aus den 20er-Jahren und drehte Runden im Central Park. Gefördert wurde er von Fred Mengoni, der in den 50er-Jahren aus Italien kam und in New York ein Vermögen gemacht hatte. Mengoni machte in New York ein Radteam nach dem Vorbild der Mannschaften in seiner Heimat auf: die Grupo Sportivo Mengoni, für die Hincapie vor zwölf Jahren erstmals amerikanischer Meister wurde, bevor er ins große Profigeschäft nach Europa ging.

Doch die meisten New Yorker Radfahrer sind zwar von Armstrong und Hincapie inspiriert, haben aber selbst wenig mit Radrennen am Hut. Etwa 500 sind es, die in den Clubs organisiert sind und beispielsweise jeden Samstag früh um fünf im Central Park zu einem Rundrennen durch den Central Park antreten, bevor der Verkehr das unmöglich macht. Rund 1.300 sind hingegen Mitglieder des New York Cycling Club, eines Vereins für ambitionierte Hobbyradler.

Mit Skateboard und BMX ist Sport im urbanen Raum in den vergangenen zehn Jahren zum Trend geworden – vermischt mit der Rap- und Graffiti-Subkultur. Bis zu ihrer Entdeckung und Ausbeutung durch die Sport- und Freizeitindustrie waren diese Sportarten trotziger Ausdruck einer Generation, die sich ihre trostlose, streng funktionale industrielle Umgebung zum Spielplatz macht. Die New Yorker Rennrad-Fahrer machen eigentlich nichts anderes. Doch ihre Demografie ist – von den Kurieren einmal abgesehen – eine ganz andere.

Die meisten, die sich am Samstag oder am Sonntag früh im Central Park zu den Ausfahrten des New York Cycling Club treffen, gehören der gut situierten Mittelklasse an. Innenarchitekten, PR-Manager, Fernsehproduzenten. Daran, dass sie Rennradfahren in einer Stadt wie New York betreiben, finden sie nichts Revolutionäres oder Außergewöhnliches, und das hat wohl vor allem mit einer Lebenseinstellung zu tun, die man in New York eben entwickelt. Eigentlich ist es hier für alles zu eng und zu voll – zum Wohnen, zum Arbeiten, zum Leben und um Kinder groß zu ziehen. Aber man arrangiert sich eben. Von der europäischen Erwartung dessen, was die Erfahrung einer Ausfahrt mit dem Rennrad ausmacht, muss man sich freilich erst einmal trennen.

Vom Central Park aus bis zur 168. Straße, der Auffahrt auf die George Washington Bridge, sind es knapp 20 Kilometer. Wer auf freier Strecke mit durchschnittlich 30 km/h vorankommt, muss sich mit hier mit der schlappen Tachoanzeige von 20 bis 22 km/h begnügen. Natur gibt es keine, nur die Backsteingebäude und Ladenfronten von Harlem, aus denen einem Gerüche in die Nase steigen, deren Ursprung man lieber nicht so genau kennen möchte. Die Fahrt ist mehr eine Flucht – man fühlt sich nicht wohl hier auf seinem teuren Sportgerät, hier, wo es ums Überleben geht.

Dafür wird man auf der George Washington Bridge mit dem zweitschönsten Blick über Manhattan nach dem vom Empire State Building herunter belohnt.

Auch nicht die Art von Aussicht, die der europäische Rennradler von einer Ausfahrt erwartet – aber nicht weniger atemberaubend als etwa der Blick von der Großen Scheidegg auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Dann hat man es geschafft – auf der New-Jersey-Seite der Brücke, die von den Zügen unter einem bebt und ohrenbetäubend dröhnt, wenn man sie befährt – führen ruhige Straßen oberhalb des Hudson entlang durch den Wald. Piermont oder Nyack, die beliebtesten Wendemarken der Radler, sind idyllische Segelhäfen im Hudsontal, in denen man sich Lichtjahre von Manhattan entfernt wähnt.

Doch es sind gerade einmal 30 Kilometer bis zur Washington Bridge, und das letzte wie das erste Drittel der Ausfahrt gehört den Straßen der Stadt, durch diese übermächtige, von Menschen gemachte Landschaft, die dem Menschen keinen Platz lässt. Und in der sich der Mensch wundersamerweise doch zurechtfindet. Wenn er sich nur dem Takt der Bewegung überlässt, mit der die Masse durch die Straßen gepresst wird. Dann macht das Radfahren durch diese Urbs urbuum, die Stadt der Städte, für einige Augenblicke glücklich.