SPD-SONDERPARTEITAG: DER UMBAU DES SOZIALSTAATES BLEIBT THEMA
: Der lange Abschied von Bismarck

Am Ende scheint die Sache unerwartet glatt zu laufen. Obwohl der SPD-Sonderparteitag am Sonntag gegen den Willen der Führung erzwungen wurde, wird er den Kurs des Vorsitzenden Gerhard Schröder voraussichtlich mit großer Mehrheit bestätigen. Auf der Zielgeraden hilft dem Kanzler sogar der widerborstige Genosse aus Düsseldorf. Peer Steinbrücks angedrohter Koalitionswechsel hat der Parteilinken noch einmal deutlich vor Augen geführt, welch unangenehme Alternativen bei einem Scheitern der jetzigen Regierung gerade aus ihrer Sicht drohen. So kann sich Schröder, der einst selbst mit neuen Bündnissen liebäugelte, als Garant für Rot-Grün präsentieren.

Es ist aber noch eine andere Drohkulisse, die den Widerstand in der SPD zusammensacken ließ. Zuletzt verging kaum ein Tag ohne schlechte Nachrichten über die Lage von Konjunktur und Arbeitsmarkt, über neue Löcher in Haushalten und Sozialkassen. Das hat auch dem letzten Genossen klar gemacht, dass die Agenda 2010 erst der Anfang ist. Die neue Diskussion über Rentenkürzungen gibt einen Vorgeschmack darauf, welche Debatten demnächst auf der Tagesordnung stehen. Da mag das, was die Genossen am Sonntag beschließen sollen, noch als kleineres Übel erscheinen.

Die SPD-Strategen um Schröder, Scholz und Müntefering können sich also vordergründig freuen. Vorerst ist ihre Taktik aufgegangen, den Reformbedarf nur in Scheibchen zu offenbaren, die so dünn sind wie bei Mailänder Salami. Doch spätestens im Herbst könnte sich das Publikum am großen Rest, der von der Wurst noch übrig bleibt, kräftig verschlucken.

Die rot-grüne Regierung hätte besser daran getan, den Umbau des Sozialstaats gleich als Gesamtprojekt zu präsentieren, statt sich in eine defensive Abbaudiskussion zu verstricken. Die aktuelle Konjunkturkrise bietet die Chance, die Bismarck’sche Sozialversicherung des 19. Jahrhunderts endlich den gesellschaftlichen Verhältnissen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Mehr als in jedem anderen industrialisierten Land beruht das deutsche Sozialsystem noch immer auf dem Idealbild des Familienernährers, der fünfundvierzig Jahre lang als Arbeiter oder Angestellter tätig ist.

Was ist sozialdemokratisch daran, dass die Arbeitnehmer mit ihren Sozialbeiträgen eine Hausfrau subventionieren, die niemanden versorgt als ihren Mann? Dass ausgerechnet der Staat einem Ingenieur eine höhere Rente garantiert als einer Sekretärin – statt eine steuerfinanzierte Grundrente für alle anzubieten? Dass Selbstständige und Beamte keine Sozialbeiträge leisten? Dass Jüngere gewaltige Summen in eine Rentenversicherung einzahlen sollen, aus der sie selbst nur wenig herausbekommen werden? Oder dass den Unternehmern der Abbau von Arbeitsplätzen durch ein verlängertes Arbeitslosengeld für Ältere staatlicherseits enorm erleichtert wird?

Menschen zu alimentieren, mit deren endgültigem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess man sich abgefunden hat, ist kein besonders sozialdemokratisches Prinzip. Künftig wird die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft nicht umhinkommen, sich mit sozialen Problemen näher zu beschäftigen. Zumindest im Westen des Landes hat längerfristige Arbeitslosigkeit meist persönliche Ursachen – teils unabänderliche wie Krankheit oder Schicksalsschläge, teils beeinflussbare wie mangelnde Bildung oder fehlende Integration. Fünfzig Jahre lang haben sich die Deutschen aber dem wohligen Gefühl hingegeben, ihre Gesellschaft sei besonders egalitär. Doch der völlige Verzicht aufs Fördern und Fordern hatte genau den gegenteiligen Effekt. Wer beispielsweise Schüler aus bildungsfernen Schichten weitgehend sich selbst überlässt, kann auch keine neuen Begabungen entdecken und fördern.

Niemand sollte sich aber dem Irrglauben hingeben, all diese Reformen ließen sich in anderen politischen Konstellationen besser verwirklichen als mit Rot-Grün. Schließlich hat die CDU erst im letzten Wahlkampf versucht, die SPD mit populistischen Parolen für den Erhalt des Status quo zu überbieten, und die FDP hatte ebendiesen Status quo jahrzehntelang verwaltet. Auch taugt die nordrhein-westfälische SPD, die Partei der Kohlesubventionen, nicht gerade zur glaubhaften Speerspitze einer Erneuerung. Angesichts solcher Alternativen wird SPD und Grünen in Berlin nichts anderes übrig bleiben, als endlich selbst in die Tat umzusetzen, was sie seit 1998 wieder und wieder angekündigt haben. RALPH BOLLMANN