Der Gelegenheits-Revolutionär

Schröders Agenda 2010 wird wohl nicht einmal den Sommer 2003 überstehen Bei ihm wird der Paradigmenwechsel zum Fall fürs Krisenmanagement

von JENS KÖNIG

Solche schönen Revolutionen gibt es nur bei den deutschen Sozialdemokraten. Die Genossen werden auf ihrem Sonderparteitag am Sonntag ihren Parteivorsitzenden für seine Rede bejubeln, Gerhard Schröder wird zurücklächeln, ein paar werden hier und da etwas zu meckern haben, und am Ende verabschieden sie alle ein Papier, das eine Perspektive bis zum Jahre 2010 eröffnen soll, in Wahrheit aber wohl nicht einmal den Sommer 2003 überstehen wird.

Die Revolution wird sich irgendwann unterwegs abspielen, von niemandem so richtig bemerkt, sie wird einfach passieren.

Aber der Kanzler sieht die Revolution, er spürt sie. Er weiß jetzt schon, dass dieser Parteitag „wichtige, vielleicht sogar historische Entscheidungen“ trifft. Die Zustimmung der SPD zur Agenda 2010 bedeutet für Schröder einen „Mentalitätswechsel“, sogar ein „neues Denken“. In der SPD hätte sich damit die Einsicht durchgesetzt, dass mit den Rezepten von gestern die Probleme von morgen nicht lösbar sind.

Wer für diese Kulturrevolution verantwortlich wäre? Was für eine Frage. Der Kanzler und Parteichef höchstpersönlich. Er hätte die SPD, wieder mal, überwältigt. Er hätte sie, wieder mal, mit den harten Wirklichkeit konfrontiert und sie an die „Realitäten“ gewöhnt. Er hätte damit bei den Genossen einen Lernprozess ausgelöst, der nicht nur den Widerstand gegen alle weiteren sozialpolitischen Reformen bricht, sondern sogar noch politische Überzeugung produziert.

Ist die Agenda 2010 also erst einmal durch, so lautet das Kalkül, wird es mit der Agenda 2020 und der Agenda 2030, wird es mit neuen, brutalen Einschnitten in den überholten Sozialversicherungsstaat um so leichter.

Gerhard Schröder glaubt an diese Form von Überrumpelungspolitik. Als Beispiel führt er die Beendigung der außenpolitischen Unschuld Deutschlands an. Bosnien, Mazedonien, Kosovo, Afghanistan – nur langsam und schwer hat sich die SPD und mit ihr die Bundesrepublik an eine Politik gewöhnt, die den Einsatz deutscher Soldaten bei internationalen Militäreinsätzen als selbstverständlich betrachtet. Heute ist dieses neue Selbstverständnis deutscher Außenpolitik aber unumstritten. Was in dieser emotional aufgeladenen außenpolitischen Frage möglich war, wird erst recht in der Innenpolitik gelingen – das ist die Überzeugung des Kanzlers.

Dahinter verbirgt sich Schröders ganze, nun ja, Theorie politischer Führung. Volksparteien kann man seiner Meinung nach in den hochkomplexen Gesellschaften von heute und unter den Bedingungen der Mediendemokratie nicht nur per Verordnung von oben herab, aber erst recht nicht als antiautoritäre Diskursveranstaltung von unten lenken. Das klingt an sich nicht verkehrt, nur in der Praxis sieht das so aus: Schröder entscheidet erst oben und lässt dann unten diskutieren. Bestimmt wird diese Politik von zwei Alltagserfahrungen des SPD-Vorsitzenden. Erstens: Streit in einer Partei wird von den Wählern nie honoriert. Er wird nie als demokratische Kultur, sondern immer nur als mangelnde Unterstützung für den Parteivorsitzenden wahrgenommen. Und zweitens: Debatten in einer Regierungspartei sind nie herrschaftsfrei. Es geht immer um die Macht.

Diese autoritäre Pose suggeriert, dass der Kanzler in weiser Voraussicht handelt und die Partei ihm irgendwann schon folgen wird. Mal abgesehen davon, dass so höchstens Loyalität zur Macht entsteht, aber keine politische Überzeugung: Dieses herablassende, überlegene Gehabe verschleiert, dass der Kanzler alle halbe Jahre nur seine jeweils neuesten Erkenntnisse zum Besten gibt. Er ist, wie alle, von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung getrieben.

Wenn Schröder von der historischen Bedeutung der Agenda 2010 so überzeugt ist, was hat ihn daran gehindert, dieses Programm in seinen bislang fünf Regierungsjahren in Angriff zu nehmen? Dauerarbeitslosigkeit, verkrustetes Gesundheitssystem, überalterte Bevölkerung, Kollaps der öffentlichen Haushalte – die Symptome der wirtschaftlichen und sozialen Krise des Landes sind seit Mitte der 90er-Jahre bekannt.

Schröder würde sagen, der Druck der Krise, der Druck auf die Partei und die Bevölkerung sei eben noch nicht groß genug gewesen. Das ist zwar falsch, aber für die ersten vier Jahre der rot-grünen Koalition könnte man das als Ausrede fast noch gelten lassen. SPD und Grüne haben sich an ökologischen und gesellschaftspolitischen Fragen (Atomausstieg, Einwanderung, Familie) abgearbeitet. Aber spätestens nach einer schonungslosen Analyse des Wahlsiegs vom September 2002 hätte Schröder klar sein müssen, dass seine Regierung die nächsten vier Jahre nur übersteht, wenn sie umgehend den Kampf um die ökonomische Mehrheit in diesem Land aufnimmt und notwendige sozial-wirtschaftliche Reformen beginnt. Der rot-grüne Wahlerfolg basierte lediglich auf einer fragilen sozialen und kulturellen Mehrheit; die ökonomische Mehrheit wählte Schwarz-Gelb.

Diese Wahlanalyse fand bei SPD und Grünen jedoch nie statt. Statt dessen riefen sie die „rot-grüne Epoche“ aus, ohne auch nur mit einem Wort zu erklären, was diese ausmacht. Dann stolperten sie in kleinteilige Koalitionsverhandlungen. Anschließend gab der Kanzler eine müde Regierungserklärung ab, und von da aus ging es geradewegs in das Chaos der ersten Regierungsmonate. Es folgten die schweren Niederlagen der SPD in Hessen und Niedersachsen im Februar.

Erst danach wachte der Kanzler auf und versuchte einen Neustart mit seiner Agenda-Erklärung vom 14. März – aber nicht als Erklärung eines notwendigen politischen Mentalitätswechsels, sondern als ein Basta!, das keinen Widerspruch duldet.

Schröders Vorstellungen von dem Lernprozess der SPD spiegeln in Wahrheit seine eigene Lernmethode wider. Er selbst reagiert nur auf den Druck der Ereignisse. Er ist Machtpolitiker durch und durch und hört auf diesem Ohr immer noch am besten. Er bewegt sich, wenn seine Macht bedrängt wird.

Seit seinem Wahlsieg im September 2002 hat der Kanzler in der SPD-Bundestagsfraktion nur zweimal Standing Ovations bekommen. Einmal für seine Irakpolitik, das andere Mal bei der Vorstellung seiner Agenda 2010. Er habe gedacht, hat Schröder Wochen später erzählt, dieser Beifall sei Legitimation genug für sein sozialpolitisches Reformprogramm. Einer ausführlichen Debatte in der SPD und einem Sonderparteitag hat er erst zugestimmt, als in der Partei die offene Rebellion drohte.

Gerhard Schröder ist ein Meister in der Bewältigung zugespitzter Situationen. Bei ihm wird selbst ein politischer Paradigmenwechsel zum Fall fürs Krisenmanagement. Schröder ist kein Revolutionär aus Überzeugung, sondern bestenfalls ein Revolutionär aus Gelegenheit – wenn überhaupt Revolutionär.

Zu der eigenartigen Logik seines Vorgehens gehört aber auch, dass aus Ratlosigkeit ein Befreiungsschlag und aus dem Befreiungsschlag eine Strategie werden kann. Schröder hat das mit seiner überraschenden Ablehnung eines Irakkrieges im Wahlkampf bewiesen – am Ende wurde daraus eine auf Prinzipien basierende Politik, die nicht nur die eigenen Genossen, sondern auch die Bürger überzeugt hat.

Vielleicht gelingt dem Kanzler mit seiner Agenda 2010 ja Ähnliches. Vielleicht hat er auf den Regionalkonferenzen ja mehr über seine Partei gelernt als die Partei über ihren Kanzler. Ganz ausgeschlossen ist das nicht. Mit seiner Rede auf dem 140. SPD-Geburtstag vorige Woche in Berlin hat er zum ersten Mal versucht, zu erklären, was an seiner Politik noch sozialdemokratisch ist. Er hat dabei – durchaus ungewöhnlich für einen SPD-Vorsitzenden, bei dem jeder grundsätzliche Gedanke unter Ideologieverdacht steht – viel über den Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit gesprochen. Möglicherweise gelingt ihm dieses Kunststück morgen auf dem Sonderparteitag noch einmal. Das könnte ein Anfang sein, seine Partei und die Bürger doch noch von seiner Kulturrevolution zu überzeugen. Dann müsste seine müde Regierung nur noch die Kraft aufbringen, dieses Programm auch umzusetzen. Die Chance dafür steht nicht gut – aber eine andere hat Gerhard Schröder nicht. Die große Koalition lauert schon.