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: Direktabnahme in gelben Stutzen

Deutschlands bester Fußball-Kommentator Marcel Reif hat eine Autobiografie verfasst: wie erwartet eitel und schnöselig, aber halt auch elegant und bissig

Ein Sportreporter ist ein Sportreporter. Er moderiert, redet viel, kritisiert gern, manchmal lobt er, ganz selten kriegt er Fernsehpreise, fast nie Aufmerksamkeit über sein Metier hinaus. Nur der Boulevard bläst ab und an Privates über die Menschen hinterm Mikro in die Hirne. Dann ist der Sportreporter immerhin Promi. Aber sonst? Sportreporter gelten als Fachidioten, häufig auf ein Spiel spezialisiert, und wenn sie wie JBK oder Beckmann die Seite wechseln, wird es entsprechend seicht im Studio. Single-Issue-Experten hieße das freundlicher im Neusprech – dem Genre verhaftet, unflexibel, freizeitfixiert, nicht ernsthaft journalistisch.

So weit die Regel. Plötzlich aber kommt jemand, schreibt über sein Werden, Wirken, Sein, und es wird weltmännisch. Marcel Reif heißt dieser jemand und gibt in seiner Biografie „Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft“ Einblicke in ein Leben rund ums Leder, das längst aus Plaste ist. Doch wenn es das allein wäre: eine Biografie mehr, ein Bohlen auf dem Rasen, ein Effenberg an dessen Rand, eine sexfreie Naddel. Nein, wenn Marcel Reif schreibt, erlebt man Fußball wie eine Art Lebensbeichte ohne Schlüpfrigkeiten, eine Zeitreise ohne Ziel, als unpathetische Liebeserklärung. Wenn nämlich der schlagfertigste deutsche Kommentator („die Spieler von Ghana erkennen Sie an den gelben Stutzen“) befindet, „Niederlagen, die einen kalt lassen, sind schlimm. Siege die einen kalt lassen, sind noch schlimmer“, spricht er allen Fans mit Worten aus dem Herzen, die einem nur nie einfallen. Wenn er „ergebnisorientierten Fußball“ zynisch nennt und Reporterphrasen à la „Mittelfeld überbrücken“ oder „Direktabnahme“ als Sprachmüll entlarvt, spricht daraus der liebende Kenner, der sportfanatische Germanist. Und ein Mensch von bald 60 Jahren.

Der Sohn eines säkularisierten Juden und einer Katholikin emigrierte – was kaum einer weiß – mitten im Krieg von Warschau nach Israel. Später ging er nach Kaiserslautern, kickte ganz passabel beim FCK, wurde nach dem Abitur politischer Journalist, ging als Bürgerkriegsreporter nach Nordirland und wechselte erst 1984 ins Sportfach. Wenn der Sprachpurist Reif von alledem berichtet, spürt man sie in den Ohren: die hochnäsig meckrige, gestochen scharfe, oft erbarmungslose Stimme des Grimme-Preis-Trägers.

Er kann sich auch in Schriftform seine eingestandene „Schnöseligkeit“ nicht verkneifen. Das Wort „reüssieren“ klingt im Buch so arrogant wie am Bildschirm. Wo Marcel Reif, zum Ende hin, doch arg ins Dozieren kommt, dringt seine ungeleugnete Eitelkeit durch. Wo er den Krebstod seines Vaters oder die Schlammschlacht seiner Scheidung streift, beweist er den Hang zur Selbstdarstellung. Doch all dies ist mit Vorsicht zu kritisieren. Denn Reif ist zwar arrogant, aber auch fundiert wie kaum ein Zweiter. Er ist eitel, aber selbstkritisch, blasiert, doch in Stil und Auftreten elegant, zwar bissig, aber überwiegend fair. Es ist nicht der erste Versuch eines Fußballreporters mit der Literatur, aber es ist der bislang beste. Reinhold Beckmann hat es 1996 in „LiebesLeder“ humoristisch probiert und verstrickte sich im Zitatedropping, Manfred Breuckmann wagte sich 1988 mit „Rote Karte für Pommes“ ins Krimimilieu und blieb belletristische Fußnote, Dieter Kürten verstieg sich in „Drei unten, drei oben“ (2003) in Religionsfragen und Jörg Wontorra schwurbelte sich in „Halbzeit mit Helden“ sprachlich altbacken durchs biografische Einerlei.

Genau das hat Marcel Reif umschifft. Nicht zuletzt dank Unterstützung seines Co-Autoren Christoph Biermann. Der Sportkorrespondent erreichte schon mit „Wenn du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen“ Hornby-Format und wird Marcel Reif über die eine oder andere schriftliche Untiefe gehoben haben. So erzählt sich Reif auf 220 Seiten durch fast 50 Jahre globalen Fußball wie aus einem Guss und kommt mittendrin zur einzig wahren Folgerung: „Selbstverständlich ist es nur Fußball.“ Auch wenn Marcel Reif ihn etwas ernster nimmt. Dafür vielen Dank. JAN FREITAG

Marcel Reif, mit Christoph Biermann: „Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft“. Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten, 18,90 Euro