„An zwei Fronten gekämpft“


„Die Iraker haben nicht gekämpft. Sie haben bekommen, was sie verdienen“

aus Damaskus KARIM EL-GAWHARY

Seiner Mutter hatte Abu Bakr bis zur letzten Minute vor der Abreise seine Pläne verschwiegen. Als er schließlich mit einer gepackten Reisetasche vor ihr stand, verstand Kamile, was ihr 27-jähriger Sohn vorhatte. „Ich wollte es ihm verbieten“, erinnert sie sich. Aber er sagte nur: „Mama, ich ziehe im Namen Gottes in den Dschihad, willst du mir das tatsächlich verbieten?“

Wie hätte sich Kamile Gottes Gebot widersetzen können. Sie ließ ihren Sohn in den „heiligen Krieg“ ziehen. Mit sechs weiteren Freiwilligen erhielt der Palästinenser Abu Bakr wenige Wochen später den Auftrag, eine Brücke über den Tigris im südirakischen Dorf Maufikija um jeden Preis gegen die heranrückenden US-Marines zu verteidigen. Es war seine letzte Mission.

„Nicht für Saddam Hussein ist mein Sohn im Irak gestorben, sondern um seine palästinensische Heimat zu verteidigen“, erklärt seine Mutter Kamile heute trotzig in ihrer kleinen Wohnung im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Aus ihr spricht die Logik der Aussichtslosigkeit, die viele palästinensische Freiwillige in den Irak getrieben hat. Der Weg nach Jerusalem war versperrt, also hatten sie es über den Umweg Bagdad versucht. Dort waren sie in einer Sackgasse gelandet, aus der es für manchen keine Rückkehr gab.

Niemand weiß genau, wie viele junge Männer aus Jarmuk, in dem etwa hunderttausend palästinensische Flüchtlinge leben, als Freiwillige gegen die Amerikaner gekämpft haben. Mehrere hundert hatten sich im März in der irakischen Botschaft in Damaskus gemeldet, um mit Bussen ins Nachbarland gekarrt zu werden. 60 von ihnen sind nicht zurückkehrt, 19 gelten inzwischen als tot und werden im Lager als „Märtyrer“ gefeiert.

Davon hat Kamiles Familie inzwischen mehr als genug. „Es ist fast wie ein Familienerbe“, erklärt sie. Jede Generation hat ihren Preis bezahlt, und der Tod kam dabei immer ein Stück weiter entfernt von ihrer ursprünglichen Heimat, dem palästinensischen Dorf Balad as-Scheich, in der Nähe von Haifa. Kamiles Vater starb 1948, im Gründungsjahr Israels, als er sein Dorf verteidigen wollte. Ihr Mann kam dabei um, als er 1982 in Beirut mit der PLO versuchte, die israelische Invasion in den Libanon aufzuhalten. Und jetzt kehrte ihr Sohn Abu Bakr nicht mehr aus dem Irak zurück.

Heute versucht Abu Bakrs Familie, dem Ganzen Sinn zu geben. Dabei sind sich seine Mutter Kamile sowie seine Schwestern Amal und Zuhair alles andere als einig. Für Kamile steht bis heute außer Frage, dass ihr Sohn sein Leben im Namen Palästinas am Tigris geopfert hat. Doch seine Schwester Amal widerspricht. Vor seiner Abreise habe sie sich noch mit ihrem Bruder gestritten, erzählt die resolute junge Frau. „Ich habe ihm gesagt, wenn du kämpfen willst, dann kämpfe in Palästina. Sonst nirgendwo.“ Amerikaner oder Israelis, das seien doch beides Aggressoren, die arabisches Land stehlen, und einer helfe dem anderen, argumentiert hingegen Kamile. Aber Amal bleibt dabei: „Mein Bruder hatte im Irak nichts zu suchen.“

Ihre verschleierte Schwester Zuhair indes hat sich ihr eigenes Motiv zurechtgelegt, und das hat weder mit Palästina noch mit Saddam Hussein zu tun. Ihr Bruder habe im Irak den Islam gegen die Kreuzfahrer verteidigt. Zweimal hat Abu Bakr nach seiner Abreise noch aus Bagdad angerufen. „Wenn ich nicht zurückkomme, dann weine nicht, Mama“, hatte er am Ende des zweiten Gesprächs gesagt.

Kamile unterbricht ihre Erzählung, Tränen laufen ihr über das Gesicht. „Sicher, ich danke Gott, dass er als Märtyrer gestorben ist. Aber mir wäre es lieber, er wäre lebend wiedergekommen“, nimmt sie den Faden nach einer langen Pause wieder auf. Anfangs, als ihr Sohn nicht zurückkam, hatte sie noch die Hoffnung, er sei von den Amerikanern gefangen genommen worden. Doch dann kam sein Freund Munir, der einzige Überlebende der sieben arabischen Freiwilligen, die die Tigrisbrücke bei Maufikija halten sollten. Er schwor auf den Koran, dass er mit eigenen Augen gesehen habe, wie Abu Bakr von einer amerikanischen Maschinengewehrsalve getroffen wurde.

Munir hat sein Leben in Damaskus inzwischen wieder aufgenommen, er arbeitet in einem Internetcafé. Zusammen mit seinem Freund Badr, der ebenfalls lebend aus dem Irak zurückgekehrt ist, berichtet der 26-jährige Palästinenser von seinen Erfahrungen. Keiner von ihnen hatte jemals vorher das Nachbarland besucht. Kurz vor dem Krieg hatten sie sich ein Touristenvisum besorgt, waren nach Bagdad gefahren und hatten sich dort im Verteidigungsministerium als freiwillige Kämpfer gemeldet.

Zunächst hatten sie die Iraker nur zu Propagandazwecken genutzt, um der Welt zu zeigen, dass die ganze arabische Welt an ihrer Seite stehe. „Ich wollte schon wieder nach Hause fahren“, erzählt der 26-jährige Badr. Als aber immer mehr arabische Freiwillige ankamen, seien sie schließlich doch militärisch eingesetzt worden. Die Kommandeure der Elitetruppe Fedajin Saddam erteilten ihnen Aufträge und stationierten sie an verschiedenen Orten des Landes. Im Laufe des Krieges zogen sich die irakischen Soldaten nach und nach zurück. „Wir dachten, die würden für die große Schlacht in Bagdad abgezogen“, erinnert sich Badr. Er und Munir wurden an verschiedenen Stellen stationiert, um den Vormarsch der Amerikaner zu stören. Es war wie eine Todesmission. „Wir waren uns sicher, dass wir sterben würden, aber schließlich war das der Grund, weswegen wir gekommen waren“, sagen beide Männer übereinstimmend.

Erst allmählich holte die Wirklichkeit sie ein. Munir überlebte als Einziger die Operation an der Tigrisbrücke und traf Badr in der südirakischen Stadt Kut. Dort hatten die Einwohner inzwischen mit den heranrückenden amerikanischen Truppen Waffenstillstand geschlossen. Die arabischen Freiwilligen wurden nach Bagdad geschickt, das bei ihrer Ankunft bereits gefallen war. Sie fuhren weiter nach Kirkuk, schliefen unterwegs in Moscheen und in Kirkuk mehrere Tage in einem Hotel, als die Stadt von einer Hand voll kurdischer Peschmerga ohne großen Widerstand eingenommen wurde. Ein Turkmene versteckte sie eine Woche lang in seinem Haus außerhalb Kirkuks. Über die nordirakische Stadt Mossul wurden sie schließlich über die syrische Grenze geschmuggelt.

Es gab tausende Freiwillige im Irak, aus nahezu allen arabischen Ländern. Jeder hatte dabei seine eigenen Beweggründe. „Manche Palästinenser kamen, um im Irak für ihre palästinensische Heimat zu kämpfen, andere Araber wollten die Umma – die arabische Gemeinschaft – verteidigen, manche wussten nicht so genau, warum sie eigentlich gekommen waren, die meisten aber waren islamisch motiviert angereist“, fasst Munir zusammen.

Alle argumentierten indes mit dem Dschihad-Konzept und ihrem Wunsch, als „Märtyrer“ zu sterben und sich so einen Platz im Paradies zu sichern. „Heute bin ich glücklich, es überlebt zu haben, schon meiner Mutter zuliebe“, sagt Badr. Sein Freund Munir nickt. „Unser Ziel war der Sieg, und da der nicht kam, bin ich froh, überlebt zu haben“, sagt er, fügt jedoch hinzu: „um erneut kämpfen zu können.“

„Ich danke Gott, dass er als Märtyrer gestorben ist“, sagt Abu Bakrs Mutter

Allerdings wollen beide sich in Zukunft nicht mehr so blauäugig einspannen lassen. „Meine Hauptlektion ist: Vertraue niemandem und nimm nicht nur die Regierung, sondern auch das Volk genau unter die Lupe“, erklärt Badr. „Wir sind in den Irak gereist, um eine Besatzung abzuwenden. Wir wollten nicht, dass die Iraker die gleiche Erfahrung machen wie die Palästinenser.“

Beide, Munir und Badr, sind voll Bitterkeit gegenüber den Irakern. „Wir haben an zwei Fronten gekämpft: auf der einen Seite gegen die Amerikaner und auf der anderen gegen einen großen Teil der Iraker, die nicht gegen die Amerikaner kämpfen wollten“, sagt Badr. Am Ende, so Munir, „mussten wir uns zurückziehen, weil wir nicht gegen andere Araber kämpfen wollten.“

Beide betonen, dass sie nie für das Regime Saddam Husseins, sondern für den arabischen Boden ihren Kopf hinhalten wollten. „Wir könnten die Iraker wesentlich mehr respektieren, wenn sie Saddam losgeworden wären. Aber 23 Millionen Menschen haben das nicht geschafft und anschließend auch nicht gegen die Amerikaner gekämpft. Sie haben bekommen, was sie verdienen.“

Badr kann seine Wut kaum verbergen. Keine zehn Pferde würden ihn jemals wieder in den Irak bringen. Alles in allem sind die beiden Dschihad-Rückkehrer heute realistischer. „Wir haben gelernt, was wir schaffen können und was nicht“, fasst Badr zusammen. Viele Araber seien zusammengekommen, um im Irak zu kämpfen, aber sie alle hätten die Amerikaner nicht stoppen können.

Aber nicht nur die neue Dschihad-Generation hat ein wenig aus der irakischen Erfahrung gelernt. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, würde sie heute versuchen, ihren Sohn trotz seines Dschihad-Arguments, seiner Größe und Kraft in ein Zimmer einzusperren und den Schlüssel bei sich zu behalten, sagt Kamile, deren Sohn irgendwo im Irak begraben ist.

Auch der zurückgekehrte Badr glaubt, dass seine Mutter ihm beim nächsten Mal wohl „die Schnürsenkel zusammenbinden wird“. Nur Munir ist sich sicher, dass ihn auch bei seinem nächsten Dschihad-Abenteuer niemand aufhalten wird. Schließlich, betont er, herrsche in seiner Familie etwas, was die Amerikaner für die ganze Region fordern: „demokratische Verhältnisse“.