Umgekipptes Lügengebäude

Leichen, die auch nach der Enthüllung von Mord und Missbrauch latent im Keller bleiben: Einfühlsam inszeniert Stephan Kimmig am Thalia Theater in „Das Fest“ die Demontage eines Patriarchen

von KARIN LIEBE

Wie ein alter Löwe, der sein Rudel an einen Jüngeren verloren hat, muss er seine Familie verlassen. Aber bevor er geht, sagt der besiegte Patriarch zu seinem ältesten Sohn: „Gut gekämpft, Christian.“ Selbst in der Niederlage schwingt er sich noch einmal zum Notengeber auf. Und Christian schweigt. Das Ende einer Familienfeier. Die aufgesetzt fröhlich begann und mit schockierenden Enthüllungen weiterging, die erst einmal unter den Tisch gekehrt wurden.

Das Fest, 1997 von Thomas Vinterberg verfilmt, ist ein hochdramatischer Stoff. Mit Suspense und Psychothrill. Stephan Kimmigs einfühlsame Inszenierung am Thalia Theater muss den Vergleich mit dem gefeierten Dogma-Film nicht scheuen. Es ist großes Schauspielertheater, ohne Manierismen in Szene gesetzt. Wenn man so will, eine Inszenierung ganz im Sinne der Dogmaregeln. Vom Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Einfachheit der Mittel bis zur verwackelten Handkamera stimmt alles.

Die Wackelkamera hält Onkel Leif (Harald Baumgartner) auf die Tischredner gerichtet, zunächst auf seinen Bruder Helge (Hans Christian Rudolph). Der will im Kreise seiner drei Kinder, seiner Frau und seiner Eltern den 60. Geburtstag feiern und probt schon mal seine Ansprache. Großartig, wie Hans Christian Rudolph allein durch seine schroff-abweisende Haltung und ein paar abfällige Worte zeigt, was für ein Mensch dieser Helge ist. Groß wird des Jubilars verwackeltes Konterfei auf eine weiße Wand projiziert – Ausschnitte einer Realität, die in ihrer Unschärfe schon anklingen lassen, wie es um Wahrheiten bestellt ist.

Wahr ist jedenfalls, dass Helges Tochter Linda, sein viertes Kind, tot ist. Und wahr ist auch, dass Helge 60 wird. Ansonsten ist nicht viel klar, sind doch die Beziehungen der Familienmitglieder ein einziges Kuddelmuddel aus unterdrückten Aggressionen. Einzig der jüngste Sohn Michael (Peter Jordan), das schwarze Schaf der Familie, lebt seine Wut offen aus. Doch er ist nur ein zahmer Löwe: Sein Brüllen verwandelt sich in das Schnurren eines Kätzchens, sobald Ehefrau Mette (Anna Steffens) die Hand nach ihm ausstreckt. Eine selten spannende Inszenierung. Man hält den Atem an, wenn Norman Hacker als Christian all seinen Mut zusammennimmt und sich anschickt, den Patriarchen zu demontieren.

Vergewaltigung und Mord wirft der älteste Sohn dem Vater vor, der Mutter schweigende Duldung. Wenn Angelika Thomas als Mutter Else ihren Sohn daraufhin als Lügner lächerlich macht, sitzt Christian lange da und schweigt. Eine Stille, die weh tut. Dieses klaustrophobische Kammerspiel ist wie geschaffen für die Bühne. Denn fast alles spielt sich im Haus ab, das bald zum Gefängnis wird. Die Bediensteten unter Anführung von Koch Kim (Felix Knopp) klauen allen die Autoschlüssel, damit sie vor der Wahrheit nicht mehr davonlaufen können. Nach der Aufklärung folgt die Erklärung: „Ihr wart nicht mehr wert“, begründet Familienvater Helge die fortgesetzte Vergewaltigung seiner Zwillingskinder Linda und Christian. Und wieder diese Stille.

Dann dreht sich die ganz in Weiß gehaltene Bühne noch einmal, gibt Einblicke ins alte Lügengebäude. Vom Bad übers Esszimmer mit dem langen Tisch bis zur weißen Wand. Dort hat sich der jüngste Sohn mit dem Freund seiner Schwester geprügelt, dort hat Kim Christian zum Durchhalten ermutigt, dort wird nach all den Enthüllungen das Bild eines sanft gewellten Sees projiziert. Das Bild einer trügerischen Idylle. Aber auch das Bild einer Veränderung. Und die Spieluhrmelodie, die sonst das Drehen der Bühne begleitet hat, wird überlappt von einer neuen Melodie, die sich immer stärker in den Vordergrund spielt.

nächste Vorstellung: 3. 6., 20 Uhr, Thalia Theater