berliner szenen Deutschland zerschlagen

Handke lesen

In der Straßenbahn, ich versuche Peter Handke zu lesen. Er schimpft auf den Westen, aber mit so stolzen, zerbrechlichen Sätzen, dass man das Buch ganz vorsichtig hält, damit das Rütteln der Bahn die Wörter nicht durcheinander bringt.

Vor mir sitzt einer dieser Betonfacharbeiterlehrlinge mit tief über die Augen gezogenem Basecap. Seine Kopfhörer verschwinden in der Ohrmuschel wie lebenswichtige Zuleitungen auf der Intensivstation.

Die Musik klingt, als hätte er sie auf der Baustelle mitgeschnitten. Fast übertönt sie das Geräusch der Bahn. Bei dieser Bereitschaft der Jugend zur Selbstverstümmelung bekomme ich Angst um meine Rente.

Plötzlich steigt ein Mann ein und liest uns wütend die Leviten: „Kann ich mit einem Apfel hier rein? Wenn man hier Döner isst, dann kann ein argentinischer Apfel ein bisschen Furijore machen! Wie ihr mich alle ankotzt, wie in der DDR! Die ganzen Votzen sind wieder da, bloß nüscht sagen. Der Unternehmer ist ein Schwein! Der macht Deutschland kaputt, und du machst mit!“

Ich gucke unauffällig hin, ob er etwa mich meint. „60 Jahre haben die Arschlöcher gebraucht, um uns in die Gosse zu bringen. Die Einheit Deutschland ist die Zerschlagung Deutschlands! Ich lass mir doch von euch Arschlöchern meine Heimat nicht versauen! Verbrecherbanden haben Deutschland überrollt! Die Votzen sind wieder da! Das hat man noch nicht gesehen, dass solche jungen Menschen so eiskalt in die Verbrechervariante gehen. Schüß, machts jut, ihr feigen Hunde!!“

Als er endlich aussteigt, kann ich wieder darüber nachdenken, warum Handke immer „kleinwinzig“ schreibt statt „winzigklein“. JOCHEN SCHMIDT