Vietnams Intelligenzija im Sucher

Das 80-Millionen-Land in Indochina ist zu einem Magneten für deutsche Studienwerber geworden. In Vietnam gibt es wenig Studienplätze für viele Schulabgänger und beste Erinnerungen – an die DDR

„In Vietnam herrscht ein einzigartiges Wohlwollen gegenüber Deutschland“„Das sind heute ganz andere Studenten, als jene, die früher in der DDR studierten“

AUS BERLIN MARINA MAI

Das akademische Deutschland hält Hof in Vietnam: Wissenschaftspolitiker, Vorständler des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) sowie Leiter der Auslandsämter mehrerer Hochschulen gehören einem Tross an, der Deutschland ab heute auf zwei Bildungsmessen in Ho-Chi-Minh-Stadt und Hanoi präsentiert. Ziel ist es, so genannte Hi-Potentials aus dem Wachstumsland Vietnam anzuwerben – hoch begabte Studenten, die zu Studium und Promotion nach Deutschland kommen sollen.

Die Aufmerksamkeit des deutschen Uni-Marketings richtet sich nicht ausschließlich auf Vietnam. Vorige Woche etwa ist ein DAAD-Team aus Mexiko zurückgekehrt, dem wichtigsten Zielland für die Akquise ausländischer Intelligenzija in Lateinamerika. Dennoch ist der indochinesische Staat auf dem Weg, ein wichtiger Uni-Partner Deutschlands zu werden – und das nicht allein wegen seiner Größe und seiner Jugendlichkeit. Vietnam hat 80 Millionen Einwohner, knapp 40 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahre alt.

Angetan sind die Auslandsexperten deutscher Hochschulen vom deutschfreundlichen Klima. Es gebe, berichtet Joachim Gerke von der Uni Heidelberg, „in Vietnam ein einzigartiges Wohlwollen gegenüber Deutschland“. Gerkes Erstaunen ist mehr als ein flotter Werbespruch. Als der Referent für internationale Angelegenheiten vor vier Jahren zum ersten Mal in Vietnam war, musste er feststellen, dass seine Traditions-Uni kaum jemanden interessierte. „Dresden, Leipzig, die Humboldt-Universität Berlin hatten dort einen Namen, nicht Heidelberg.“ Die Liebe der Vietnamesen gilt – der DDR. Die deutschen Hochschulen knüpfen in dem Land zwischen Mekongdelta und chinesischer Grenze an Kontakte und Traditionen an, welche die DDR aufgebaut hat. Mehr als 10.000 Vietnamesen haben ab Ende der 50er-Jahre dort studiert. Anders als der Einsatz der Vertragsarbeiter, der Engpässe in der Produktion stopfen sollte, war das Studium eine Karrierechance.

Noch heute leuchten in Vietnam viele Augen beim Klang von Ortsnamen wie Rostock, Dresden oder Weimar. Studienjahre dort gehörten für viele Vietnamesen zu den schönsten in ihrem Leben. „Deutschland ist als Studienstandort in Vietnam heiß begehrt“, berichtet der emeritierte Vietnamistikprofessor Wilfried Lulei. Neben der Tradition befördern auch ökonomische Gründe die Sympathie – in Deutschland gibt es keine Studiengebühren.

Nach Angaben des DAAD sitzen heute 5.000 der DDR-Absolventen in Vietnam in Schlüsselpositionen. Der Zoodirektor von Ho-Chi-Minh-Stadt ist ebenso darunter wie Hochschullehrer, Geschäftsführer und Ministerialbeamte. Diese Experten sprechen gut Deutsch, lesen deutschsprachige Literatur und haben oft ein emotionales Verhältnis zum Land ihrer Studienzeit. Und ihre Kinder gelten heute, so Gerke, als „ambitionierte und engagierte Studenten“.

An einer solch fleißigen Spezies von Studenten herrscht hierzulande Nachfrage. In den Hochschulen rangeln die Studis wegen der personellen Unterausstattung zwar um Dozenten – aber beileibe nicht in allen Fächern. Gerade in den Natur- und Ingenieurwissenschaften fehlen ganze Jahrgänge. Trotz Konjunkturproblemen droht dieser Nachwuchsmangel für die Industrienation Deutschland ein Problem zu werden.

Laut einer Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung steigt der Bedarf an hoch qualifizierten Jobs von 20 Prozent (1995) auf 24,1 Prozent (2010). „Die Nachfrage nach Hochqualifizierten ist auch während der Wirtschaftsflaute kaum gesunken“, sagen Experten – und warnen: Wenn das Wachstum zurückkehrt, sitzen wir in der Klemme. Dem wollen die Hochschulen und Bildungsadministrationen vorbauen. Sie werben seit 2000 verstärkt um die junge Intelligenz aus dem Ausland.

Dabei gehen die konkreten Projekte längst über das Sonntagsblabla von der Internationalität des Studiums hinaus. Internationale Programme sprießen an den deutschen Hochschulen. Sogar vermeintliche Provinzhochschulen wie die FH Coburg suchen Topstudenten für Studiengänge wie „Financial Management“, in dem 80 Prozent der Bewerber aus dem Ausland kommen. Die TU Dresden ist einen Schritt weiter – sie unterrichtet außer Landes. Für ihr Offshore-Projekt „Vietnamesisch-Deutsches Ausbildungs- und Forschungsinstitut“ in Hanoi hat sie gerade die Lizenz erhalten. Daher begleitet Sachsens Wissenschaftsminister Matthias Rößler (CDU) die akademische Reisegruppe nach Vietnam, um sich persönlich anzusehen, wo die TU Dresden und die Hanoi University of Technology künftig Maschinenbauer und Elektrotechniker ausbilden. Lehrsprache wird Deutsch sein; ein Masterkurs kostet 1.000 Dollar pro Semester.

Die Zusammenarbeit steht auch auf der Agenda Hanois weit oben. Seinen 1,5 Millionen Schulabgängern kann das Land ganze 150.000 Studienplätze für Erstsemester anbieten. Vor allem in den Ingenieurwissenschaften, der Informatik und der Telekommunikation fehlen vietnamesischen Hochschulen Kapazitäten, daher will sie ihren Nachwuchs vermehrt in westliche Industriestaaten schicken – gern auch nach Deutschland.

Doch was beide Regierungen wollen, stößt in der Praxis oft auf Hindernisse. Noch stellt die deutsche Botschaft in Hanoi nicht gerade großen Zahlen an Studienvisa aus. 80 Visa waren es 2000, vergangenes Jahr 665 – viel zu wenig, um die große Gemeinde (14.000) chinesischer Gaststudenten einholen zu können. Nur ein Bruchteil der vietnamesischen Studenten bekommt ein Stipendium, die anderen sind Selbstzahler. Sie müssen einen einjährigen Sprachkurs in Deutschland finanzieren, während des Studiums ihren Lebensunterhalt aus Geldern der Familie bestreiten und eine teure Kaution bei der Ausländerbehörde hinterlegen. Das Durchschnittseinkommen liegt in Vietnam bei gut 100 Dollar.

Hier könnte sich ein Problem bei der Werbung von Gaststudenten ergeben: Wer sich das Studium leisten kann, stammt aus einer der Familien, die in Vietnam in den 90er-Jahren zu ungeheurem Reichtum gekommen sind. Die Eltern sind in der Regel Inhaber von Handelsfirmen. In der konfuzianistischen Kultur ist der Handel aber traditionell der unterste, vierte Stand. Akademische Traditionen existieren in diesen Familien meist nicht. Dort zählt häufig schnell gemachtes Geld.

Die Kinder wachsen mit der Erfahrung auf, dass alles käuflich ist – auch gute Zensuren und Schulabschlüsse. Eine Deutschlehrerin an einer privaten Sprachschule in Deutschland hat Erfahrungen mit vietnamesischen Schülern gemacht, die sie in einem einjährigen Sprachkurs auf die Aufnahmeprüfung an einer Hochschule vorbereitet. „Das sind ganz andere Studenten“, berichtet sie, „als die fleißigen, lernwilligen Vietnamesen, die früher in der DDR studierten. Die meisten haben schon Probleme, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen. Sie durchschauen keine grammatischen Strukturen und sprechen kein Wort Englisch, obwohl im Abiturzeugnis Englischnoten stehen.“

Die Germanistin will anonym bleiben. Mehrfach sei ihr von den Eltern indirekt Geld angeboten worden, falls sie den Söhnen und Töchtern bessere Zensuren geben würde. In Vietnam können solche Gelder durchaus zu guten Abiturnoten beitragen.

Weil ein Studentenvisum derzeit fast die einzige Möglichkeit für Vietnamesen ist, legal nach Deutschland zu reisen, kommen offenbar viele aus anderen als Studienmotiven. Dass alle Vietnamesen, die derzeit nach Deutschland zum Studium kommen, einmal den akademischen Austausch vorantreiben oder Brücken zwischen beiden Staaten bauen werden, ist kein Naturgesetz.

Um ein Studentenvisum für Deutschland zu bekommen, muss man sich zum Teil dubioser Dienstleistungsbüros bedienen, welche die Bürokratie erledigen und damit ein neues Geschäftsfeld entdeckt haben. Allerdings hat der DAAD inzwischen einige Erfahrung, Visa und Zeugnisse asiatischer Studienbewerber zu kontrollieren. In China hat der Austauschdienst in seinem Büro eine Verifizierungsstelle eingerichtet. Dort werden die Zertifikate der Studienbewerber überprüft, ehe die deutschen Hochschulen sie in Hi-Potential-Kurse einsortieren. Experten schätzen, dass ein Drittel der Zeugnisse in China gekauft sind.

Die deutsche Delegation in Vietnam wird gewiss mit offenen Armen empfangen. Aber ein Selbstläufer ist die Studentenwerbung nicht. Denn die USA, Australien und England haben vor Ort längst bestens organisierte Studienbüros. Die Deutschen werden also nicht Hof halten können, sondern sie haben sich in Hanoi und dem früheren Saigon einem harten Wettbewerb zu stellen.