Der letzte Deutsche

Michael Schumacher fährt uns mit Renntempo zurück in die goldenen Zeiten des Fünfzigerjahre-Wirtschaftswunders. Als Mann ohne unnütze Eigenschaften, als ölglatte Formel-1-Erfolgsmaschine verkörpert er das perfekte Vorbild für das siechende Land. Dumm nur, dass der Schumi-Roboter einen entscheidenden Fehler im Programm hat: Er lebt in der Schweiz und fährt ein italienisches Auto

VON JÖRG SCHALLENBERG

Der Reporter der Khaleej Times aus Bahrein war verzweifelt: „Es schien wie im Film ‚Täglich grüßt das Murmeltier‘, als Schumacher am Start explodierte und ins Ziel raste“, schrieb er in seinem Kommentar über das Formel-1-Rennen vom vergangenen Wochenende. Merkwürdig, dabei handelte es sich doch um den ersten Grand Prix, der jemals in dem kleinen Wüstenstaat ausgetragen wurde – auf einer Piste, die in kürzester Zeit aus dem feinen Sand gestampft werden musste, weil es dem Rennsport-Mogul Bernie Ecclestone nun mal so gefiel. Alles war also neu am Sonntag in Sakhir, Bahrein, und doch war alles wie immer.

An der Spitze des Feldes zog mit riesigem Vorsprung Michael Schumacher im Ferrari seine Kreise. Alle drei Rennen dieser Saison hat der Deutsche haushoch gewonnen, sechsmal ist er bereits Weltmeister geworden, so oft wie niemand vor ihm in der Formel 1, dem nach Fußball beliebtesten Sport der Deutschen.

Angesichts dieser beinahe unerträglichen Überlegenheit suchten die Zeitungen weltweit in den vergangenen Tagen nach einer Erklärung für das Phänomen Schumacher. Das dänische Ekstra Bladet meckerte über die finanzielle Überlegenheit des Ferrari-Rennstalles, die spanische Marca witterte einen „Pakt mit dem Teufel“ – und Bild wusste es selbstverständlich wieder mal am besten, als sie Schumacher zum letzten wirklich deutschen Deutschen ausrief, der alle Werte wie Treue, Härte, Pünktlichkeit, Fleiß, Tapferkeit und Disziplin verkörpere, die uns undeutschen Deutschen abgingen – zumal in diesen schlechten Zeiten, an denen selbstverständlich nur wir und die unerklärliche Degeneration unserer Siegergene schuld seien.

Michael Schumacher, das haben wir nun begriffen, ist so gesehen nichts anderes als eine Fleisch gewordene Universal-Sekundärtugend. Er steht mithin für all das, mit dem man ein neues Wirtschaftswunder schaffen, alle Pisa-Studien anführen und endlich mal wieder einen Krieg gewinnen könnte.

Im Umkehrschluss bedeutet die These allerdings offensichtlich auch, dass er darüber hinaus für nichts anderes steht. Und das wirkt irgendwie beunruhigend.

Denn der Mensch definiert sich selbst in Deutschland nicht ausschließlich über seine ohnehin geschrumpften Sekundärtugenden. Abgesehen von Michael Schumacher. Dass der seine Rennen mittlerweile mit der Gleichmäßigkeit eines Roboters nach Hause fährt, in dessen elektronisches Rückenmark ein Schweizer Uhrwerk verpflanzt wurde, verwundert im Hightech-abhängigen, mehr oder weniger sportlichen Wettbewerb Formel 1 wenig.

Ein kalter, unangenehmer Schauder durchfährt den Betrachter erst dann, wenn das Ritual der Siegerehrung beginnt. Auf der höchsten Stufe des Podests wird eine Aufziehpuppe in einem knallroten Rennoverall abgestellt, die über das motorische Repertoire eines Wackeldackels verfügt und das Gesicht lediglich in regelmäßigen Abständen zu einem grimassierenden Lächeln zusammenziehen kann. Schließlich reckt sie noch die Faust in die Luft und vollführt ein paar abgehackt dirigierende Bewegungen zur abschließenden italienischen Nationalhymne, die zu Ehren von Ferrari intoniert wird.

Es wirkt, als entwiche im Augenblick des Sieges jeglicher Rest an menschlichen Eigenschaften schlagartig aus Michael Schumacher – als erreiche die ungeheure Selbstdisziplinierung, die er sich auferlegt hat, um zu diesem Triumph gelangen zu können, hier ihren finalen Höhepunkt. Kein Moment spiegelt das Erfolgsmodell Michael Schumacher, gebaut im Maßstab 1:1, so genau wider wie das ewig wiederkehrende Murmeltier-Ritual der Siegerehrung. Kein Moment verdeutlicht so sehr, warum er es zum absoluten Überfahrer gebracht hat, kein Augenblick kann überzeugender als Erklärung dafür dienen, warum Michael Schumacher nie auf eine Weise als Sportheld verehrt, geliebt oder gehasst werden kann wie ein Boris Becker oder ein Oliver Kahn.

Dabei ist er in seinem Sport erfolgreicher und perfekter, als es diese beiden zusammen je waren oder sein werden. Dabei blamiert sich Schumacher nicht durch peinliche Liebesaffären an peinlichen Orten wie Londoner Besenkammern oder der Münchner Promi-Schwemme P1, lässt sich nicht wegen Steuerdelikten vor Gericht zerren oder parkt seinen Sportwagen falsch auf dem Gehsteig. Das Problem ist nur: Er macht eigentlich auch sonst nichts. Wenn man die Gedanken um Michael Schumacher kreisen lässt, dann fahren sie eine schnelle Runde und sind in Rekordzeit am Ziel angelangt – das zugleich der Start ist.

Michael Schumacher fährt Auto. Oder er bastelt am Auto. Manchmal spielt er Fußball, irgendwo in der Schweiz. Genau betrachtet, macht er eben das, was er – wenn man den zahlreichen Aussagen früherer Freunde und Bekannter trauen darf – schon als Jugendlicher im heimischen Kerpen getan hat. Da arbeitete er als Kfz-Mechaniker, tunte seinen Golf von 75 auf 100 PS hoch, fuhr Kartrennen und war im Fußballverein. Die Haare trug er vorne kurz, hinten lang. Immerhin, das hat sich geändert.

Doch sonst hat Schumacher seinen persönlichen Mikrokosmos einfach auf hohem Niveau konserviert. Autos und Fußball, das war’s. Tiefer hat Michael Schumacher nie blicken lassen. Vielleicht hat er schnell bemerkt, dass die Glamour- und Jet-Set-Boheme, die den Formel-1-Zirkus hartnäckiger verfolgt als jeden anderen Sport, sich schwer in Einklang bringen lässt mit den unangenehm müffelnden Hinterstuben des PS-Geschäfts. Schumachers Manager ist nach wie vor Willi Weber, ein zwielichtiger Geschäftsmann, der früher als Gebrauchtwagenhändler mit Kontakten zum Rotlichtmilieu sein Geld verdiente und 1988 in Böblingen wegen Förderung der Prostitution zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.

Schumachers erste Stelle in der Formel 1 besorgte ihm Weber einst im Benetton-Team des nicht weniger zweifelhaften Goldkettchen-Machos Flavio Briatore. Dessen windige Tricks brachten Schumacher bald den Spitznamen „Schummel-Schumi“ ein. Nachdem der Nachwuchsraser sich daraufhin seinen ersten Weltmeister-Titel 1994 sicherte, indem er seinen direkten Konkurrenten Damon Hill im letzten Rennen von der Piste rammte, galt er in der Öffentlichkeit ebenso als Jahrhundert-Talent wie als rücksichtsloser, unsportlicher Rüpel.

Die Häme, die ihn daraufhin lange Zeit in der Berichterstattung begleitete, hat Schumacher endgültig den Rückzug antreten lassen. So wie er seine Fahrkünste und die Technik seiner Autos unaufhaltsam perfektionierte, so sehr bemühte er sich, keinerlei Angriffsflächen mehr zu bieten. Nur einmal, 1998, fiel er aus der Rolle, als er laut darüber nachdachte, ob man Hooligans nicht wie Tiere einschläfern sollte.

Eine Ausnahme. Wenn man Interviews mit Michael Schumacher sieht oder liest, dann wirkt er so aalglatt wie ein Ölfilm, an dem jeder Regentropfen abperlen muss. Das Unwirkliche und Puppenhafte seiner Erscheinung verstärkt sich noch durch die Eigenarten der Formel 1. Obwohl die körperliche Belastung einer rasenden Fahrt in einem 900-PS-Boliden laut Medizinern der eines Fluges in einem Düsenjäger vergleichbar ist, sieht man Schumacher keinerlei Anstrengung an. Wenn die Kameras auf ihn gerichtet sind, fließt kein Schweiß, wenn er seinen Sport ausführt, kommt nur das Auto ins Bild. Ohne das Auto wäre Schumacher nichts. Er verkörpert in allem, was er tut, die perfekte Verschmelzung des Menschen mit der Maschine. Sowohl was seinen Ferrari als auch den nicht weniger gut geschmierten Medienapparat betrifft, der die Formel 1 begleitet.

Schumacher wirkt wie der ideale Prototyp des Arbeiters, der völlig in seiner Arbeit aufgeht, und das bei einem stetig anwachsenden Gehalt irgendwo zwischen 30 und 50 Millionen Dollar. Pro Jahr. Das muss es sein, was Bild bei ihrer sehnsüchtigen Suche nach dem letzten echten Deutschen gemeint hat: Als Mann ohne unnütze individuelle Eigenschaften, der nur seine Arbeit kennt und die fleißig, pünktlich, zuverlässig mit aller nur möglichen Härte gegen sich selbst verrichtet, liefert Michael Schumacher das perfekte role model des Wirtschaftswunder-Deutschen der Fünfzigerjahre. Und da wollen doch alle gerade wieder hin.

Allerdings, und das ist wiederum verdammtes Pech fürs Vaterland, hat irgendjemand eine dumme Fehlfunktion in den Schumi-Roboter einprogrammiert. Statt im heimischen Rheinland zu bleiben und sich bei Mercedes redlich zu nähren, versteuert der Multimillionär sein Einkommen angesichts des nun wirklich unzumutbaren deutschen Fiskalsystems seit Jahren konsequent in Monaco oder der Schweiz und hilft mittels preußischer Sekundärtugenden sogar den sympathisch chaotischen Italienern, bessere Rennautos zu bauen als die Deutschen.

Wenn von Michael Schumacher also eine Botschaft an uns ergeht, dann die: Wer als Deutscher reich, erfolgreich und glücklich werden will, sollte sich, sein Wissen und sein Geld so schnell wie möglich im Ausland in Sicherheit bringen. Danke, Schumi.