Ich, Platz, Ball

Vera Zwonarewa und Nadja Petrowa sorgen bei den French Open in Paris für mächtig Aufsehen

PARIS taz ■ Auf den ersten Blick sah es nicht so aus, als sei etwas Besonderes passiert. Vera Zwonarewa (18) und Venus Williams reichten sich am Netz die Hand, schnell packten beide die Taschen, und in kurzem Abstand verließen sie den Court Central; zuerst die Amerikanerin, ein paar Augenblicke später die junge Russin, scheinbar ungerührt. Die geröteten Wangen verrieten die Anstrengung vom Spiel, aber der Blick aus ihren gletscherblauen Augen war klar und ungetrübt. Ob sie denn wirklich gedacht habe, die große Favoritin schlagen zu können, fragte der aufgeregte Mann vom französischen Fernsehen am Ausgang. Woraufhin Vera in aller Ruhe antwortete: „Wenn du auf den Platz gehst und nicht daran glaubst, dass du gewinnen kannst, dann gewinnst du auch nicht.“

Schwer zu sagen, ob dieser feste Glaube, schnelle Beine und gute Ideen ausgereicht hätten, eine Venus Williams in gewohnter Verfassung zu schlagen. Nachdem sie Anfang Mai im Finale des Turniers von Warschau wegen einer Bauchmuskelzerrung aufgegeben und vor dem Beginn der French Open nicht mehr gespielt hatte, ist Williams in Paris von Beginn an nicht in Form gewesen. Sicher, es war die ungewöhnlich große Anzahl von leichten Fehlern der Favoritin (75, darunter zwölf Doppelfehler), die Zwonarewa halfen beim größten Sieg ihrer jungen Karriere, aber ohne die eigene Nervenstärke, ohne einen kühlen Kopf in der Hitze des Geschehens hätte das nichts genützt.

Fast noch eindrucksvoller war die Art, wie die gut zwei Jahre ältere Nadja Petrowa die zweite amerikanische Favoritin besiegte. Jennifer Capriati zeigte denselben Kampfgeist wie immer, doch das reichte nicht, denn Petrowa war nicht zu erschüttern. Hat sie nie darüber nachgedacht, wer da auf der anderen Seite steht? „Nein“, sagt sie, „wenn ich spiele, dann gibt es nur mich, den Platz und den Ball.“

Cool und clever die jungen Russinnen, keine Frage. Die haben ein ganz anderes Selbstbewusstsein als eine Natascha Zwerewa seinerzeit. Die war 17, als sie 1988 in Paris Martina Navratilova und Helena Sukova besiegte, im Finale gegen Steffi Graf aber so nervös war, dass sie kaum stehen konnte. Graf gewann in nur 34 Minuten 6:0, 6:0.

Zwerewa war die Erste aus der neuen russischen Generation, spätestens seit dem ersten Auftritt von Anna Kurnikowa wartet die Tenniswelt auf eine russische Nummer eins. Keine der Russinnen strahlt auch nur den Hauch von Kurnikowas Glamour aus, aber es sind intelligente, ehrgeizige, junge Frauen, die die Geschäftssprache Englisch kaum schlechter sprechen als Jennifer Capriati.

Vera Zwonarewa trainiert wechselweise in Moskau und im US-Bundesstaat Maryland, weil ihre Trainerin Julia Kaschewarowa dort lebt. Sie arbeitet hart, und sie scheint auf dem richtigen Weg zu sein. Bei ihrem Debüt in Paris vor einem Jahr kam sie bis ins Achtelfinale, und in der Weltrangliste stand sie Ende des Jahres 2002 auf Platz 45. Nachdem sie im Frühjahr in Bol/Kroatien ihren ersten WTA-Titel gewonnen hat, ist sie auf Rang 21 vorgerückt – Tendenz steigend.

Auch Nadja Petrowa stammt aus Moskau, aber die beiden kennen sich kaum. Als Nadja sieben war, zogen die Eltern mit ihr in die ägyptische Hauptstadt Kairo, um dort als Leichtathletik-Trainer zu arbeiten; Vater Victor ist mal erfolgreicher Hammerwerfer gewesen, Mutter Nadejda war 400-m-Läuferin und gewann mit der russischen Staffel die Bronzemedaille 1976 in Montreal. Zurückgeworfen durch eine Fußverletzung im vergangenen Jahr, scheint Petrowa nun wieder die richtige Form zu haben für ein erfolgreiches Comeback.

Wenn heute das Viertelfinale der Frauen gespielt wird, sind drei der vier großen Amerikanerinnen nicht mehr dabei – Venus Williams, Capriati und Lindsay Davenport, die verletzt aufgeben musste –, dafür aber zwei Russinnen, die noch nicht jeder kennt. Noch nicht! DORIS HENKEL