Mit kleinen Schritten zum Schalke des Ostens

Ein Mythos geht auf Reisen: Erzgebirge Aue schafft den Aufstieg in die Zweite Fußball-Bundesliga

DRESDEN taz ■ Genau so hatte Aue sich das vorgestellt. Nach dem Spiel stürmten 7.000 Fans das Spielfeld des Dresdner Harbig-Stadions. In der Kabine begann ein wahres Bacchanal. Sektkorken flogen. Die Spieler duschten mit Bier. Freudenschreie flirrten durch die schwüle Luft. Nur einer beherrschte sich und bahnte sich mit kontrollierter Miene seinen Weg durch die enthemmte Partygesellschaft. Trainer Gerd Schädlich ist nicht der Mann für exaltierte Feiern. Er musste regelrecht zu einer Gefühlsregung gedrängt werden. Ein Fan des Dresdner SC erbat sich auf der Pressekonferenz ein Lachen Schädlichs. Der bemühte sich, ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des Übungsleiters. Danach antwortete er: „Wenn Sie Trainer in Aue wären, hätten sie auch nichts zu lachen.“

Das ist natürlich übertrieben. Aue hat derzeit allen Grund zur Freude. Durch ein 4:1 beim Dresdner SC ist der FC Erzgebirge in die Zweite Liga aufgestiegen, einen Spieltag vor Ende der Saison in der Regionalliga Nord. „Bezahlten Fußball hat sich das ganze Bergvolk gewünscht“, sagte Jörg Weißflog, Torwarttrainer und früherer DDR-Auswahlkeeper, über die Stimmungslage einer Region. Halb Aue war nach Dresden gereist, um dabei zu sein. Polizeistaffeln eskortierten die 22 Fanbusse durch die verstopfte Dresdner Innenstadt, damit die Insassen noch rechtzeitig zum Spiel der Veilchenblauen kamen. Auf Autobahnbrücken der A 4 hingen Plakate. Darauf: „Ein Mythos geht auf Reisen“. Im Stadion stimmten sich die Anhänger mit „Eisern Wismut“-Rufen ein, eine Referenz an den alten Vereinsnamen bis 1992.

Im Wismut-Kombinat, Geldgeber des Vereins, wurde unter sowjetischer Aufsicht von 1947 bis 1990 Uranerz gefördert. Viele Spieler arbeiteten im Bergbau. Das alte Wappen der Betriebssport-Gemeinschaft Wismut Aue zieren zwei gekreuzte Hämmer, Insignien der Knappen, mit denen die Fans noch lieber ins Stadion gehen als mit dem neuen Vereinszeichen. Die montane Ära ist in Aue, der 18.000 Einwohner zählenden Stadt an der Lößnitz, freilich vorbei.

Das Erzgebirge brachte bislang sehr erfolgreich Nussknacker und Schibbögen unters Volk, jetzt soll der Fußball exportiert werden. Im Überschwang des Erreichten schwärmte Präsident Uwe Leonhardt: „Aue hat viel mehr Tradition als Energie Cottbus, wir waren zu DDR-Zeiten eine Kultmannschaft, da wollen wir jetzt wieder hin.“ Sein Zwillingsbruder und Stellvertreter im Präsidium, Helge Leonhardt, meinte es noch besser mit seiner Mannschaft: „Wir haben im Europapokal gespielt. Aue kann wieder ein Mythos werden, das Schalke 04 des Ostens.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Mit kleinen Schritten bewegt sich Aue aber stetig nach vorn.

Der Coach weiß, was es heißt, in Liga zwei aufzusteigen. 1994 ist ihm das mit dem FSV Zwickau gelungen. „Es kommen jetzt schwere Zeiten auf uns zu“, sagt er. Es gehe darum, dass sich der Verein „klug oben festsetzt“ (U. Leonhardt) und nicht zu einer Fahrtstuhlmannschaft verkomme. Diese Gefahr sieht das Präsidium nicht. „Die Sache steht“, sagt Uwe Leonhardt über die Planungen für die Saison in der Zweiten Liga, für die der DFB ohne Auflagen die Lizenz erteilt. „Wir müssen nicht viel an unserer Struktur verändern.“ Man habe keinen Bammel vor der Herausforderung, behauptet der Vizepräsident: „Wir sind Wirtschaftstypen, die vor dem Größeren keine Angst haben.“

Geplant wird mit einem Etat von 5,3 Millionen Euro, allein die Fernsehgelder verzehnfachen sich. Ein paar gute Spieler wollen sie sich jetzt leisten. Endlich. Vor der Saison gingen die vier Besten weg, wie so oft. Schädlich war gezwungen, die Mannschaft mit Viertligaspielern aus Jena oder Plauen aufzufrischen. „Anfangs wollten wir nur Punkte gegen den Abstieg sammeln, aber dann hat die ganze Geschichte eine Eigendynamik bekommen“, sagte Schädlich und blickte wieder sehr ernst drein, während sich alle anderen der Faszination des Augenblicks hingaben.

MARKUS VÖLKER