bernhard pötter über Kinder
: Der lange Schatten von Hein Blöd

Wohin führt die Erziehung zum Neinsagen? Zu frühreifen Totalverweigerern

Bei Jonas war alles klar. Als unser Erstgeborener sprechen lernte, nahm er nach dem obligatorischen „Mamapapa“ den Begriff auf, den er in seiner Umgebung am eindrucksvollsten wahrnahm. Das, was seinen Geist provozierte, seine Seele ansprach und seinen Körper herausforderte: „Auto.“

Bei unserer Tochter Tina ist das anders. Wir leben zwar immer noch mitten in der Stadt und nicht in einer kanadischen Blockhütte. Wir riechen immer noch Auspuffgase statt Blütenduft. Wir denken bei „Hai“ an einen Vermieter und bei „Elch“ an Ikea. Wir sehen immer noch mehr Autos als alles andere.

Und Tinas erstes wirkliches Wort war: „Biber“.

Was sehr clever ist. Weil es uns zwingt, ihr den Rest der Welt zu erklären. Jonas („Auto!“ – „Ja, Jonas, das ist ein Auto“) wollte immer nur die Bestätigung. Tina dagegen („Biber!“ – „Nein, Tina, das ist eine Geflügelschere“) will den Widerspruch. Wir geben gern und reichlich.

Ganz logisch folgte dann auch das nächste Wort: „Nein!!!“ Mit drei Ausrufezeichen. Und eigentlich eher als „Hein!!!“ gesprochen. Damit öffnete sich unsere Tochter eine gänzlich neue Tür in der Familienlinguistik. Jetzt geht es nicht mehr um die banale Benennung der Dinge (also der Biber), sondern um Kommunikation. Und zwar in ihrer radikalsten Art: der grundsätzlichen Leugnung, der Verneinung, der Negation alles Dagewesenen:

„Tina, komm mal her!“ – „Hein!!!“ – „Tina, ihr geht jetzt schlafen“ – „Hein!!!“ – „Tina, wir müssen los!“ – „Hein!!!“

Stört uns diese Totalverweigerung? Aber hein! Wir wissen ja, dass so die Sprachentwicklung läuft. Und dass sie nachplappert. Und es toll findet, magische Wörter zu entdecken, die ihre Umgebung zu einer Handlung veranlassen. Und sei es nur, dass ihre Eltern die Augen rollen und resigniert durch die Nüstern schnauben. Weil sie sich fühlen wie der Kanzler: Ganz egal, was man sagt: Das Geschrei ist groß.

„In einem höheren Sinne bekommt ihr nur, was eure Generation verdient“, sagt unser Freund Frank. Der ist zwei Jahrgänge unter mir und bekam deshalb bei den Bundesjugendspielen immer für eine halbe Sekunde langsamer beim Hundertmeterlauf 78 Punkte mehr, die Flasche. Damals kam er so an Ehrenurkunden. Heute rechnet er sich deshalb zu einer anderen Generation.

„Warum das denn?“, frage ich, als Tina mir mal wieder eine heingewürgt hat. „Weil ihr immer gegen alles wart und nie für etwas“, sagt Frank. „Ihr Linken habt doch immer nur protestiert. Wer für etwas war, der war in der Jungen Union. Und jetzt machen eure Kinder ebenso weiter.“

Darüber kann man zumindest nachdenken, denke ich, als Tina sich vor mir am Abendbrottisch in die Ablehnung ihres Lieblingsessens heinsteigert. Wo haben wir uns engagiert? Auf welchen Demos waren wir? Gegen Nachrüstung. Gegen Atomkraftwerke. Gegen Nazis. Gegen Kohl. Gegen Reagan. Gegen Autobahnen. Gegen diverse Kriege. Gegen Kürzungen an den Unis. Gegen die Ausweitungen der Rüstungsexporte. Natürlich kam diese Antihaltung aus dem Wissen, was wir wollten. Eigentlich. Aber ich kann mich nicht erinnern, ob ich je auf einer Demo für Windkraftanlagen war. Oder für die Einrichtung eines zivilen Friedensdienstes demonstriert habe.

Frank hat Recht: Wir waren so lange mit Neinsagen beschäftigt, dass wir erst ganz spät dazu gekommen sind, Verantwortung zu übernehmen. Und nicht weiter an der Uni rumzulungern. Damit aufzuhören, sich zynisch-allwissend von den Niederungen der Tagespolitik abzuwenden. Oder die Zeugung von Nachkommen zu verweigern. Und kaum stellen wir uns der Vergangenheit, stellt die Vergangenheit uns. In Gestalt von Hein Blöd.

Das schlechte Gewissen pocht heftig von innen an meine Schläfen. Habe ich meine Tochter zur Neinsagerin erzogen, nur weil sie keine Jasagerin werden sollte? Sie wird das Glas ewig halb leer sehen. Niemandem vertrauen. Sich „Ich zuerst!“ auf ihr T-Shirt drucken lassen. Die Menschen meiden. Sich von der Welt abkapseln.

Und vor allem: Wir können nichts tun. Anna und ich ringen abends, wenn die Kinder schlafen, verzweifelt die Hände: Wie geht das weiter? Warum sagt sie zu allem und jedem „Hein“? Wer will noch was mit ihr anfangen? Wie bringen wir unsere Heinsiedlerin zu sozialer und gesellschaftlicher Partizipation, zur Teilnahme am Gemeinwesen?

Das geht dann schnell und deutlich. Am nächsten Tag steht Tina vor Jonas, der gerade ein Eis isst. Laut und deutlich ruft sie ihr neues Lieblingswort: „Auch!“

Und dann auch noch: „Mehr!!!“ Mit drei Ausrufezeichen. Willkommen unter den Menschen.

Fragen zum Gemeinwesen?kolumne@taz.de