Der teutsche Sokrates

Warum immer Jesus? Feiern wir doch einmal zu Ostern einen anderen seltsamen Kauz. Am morgigen Sonntag ist der 232. Geburtstag des Publizisten Johann Gottlob Heynig

Stänkern, wo es geht, lautete die Devise des Johann Gottlob Heynig

Johann Gottlob Heynig ist von einer halben Hand voll Germanisten völlig korrekt als Zeitgenosse Goethes eingestuft worden. Damit hat sich’s in Sachen Heynig-Rezeption aber auch schon wieder. Wer möchte, kann dem „teutschen Sokrates“, so sein selbst gewählter Tarnname, 6.000 Druckseiten in 44 Werken nachweisen. 25 davon lassen sich in europäischen Bibliotheken einsehen.

Es sind Schriften, die, soweit das heute beurteilt werden kann, hochgradig versponnen, mitunter verblüffend eitel und arrogant und auch im schönsten und unterhaltsamsten Sinn ignorant anmuten. Über Johann Gottlob Heynigs allumfassende Paranoia muss der moderne Leser nicht nur oft schmunzeln, sondern noch öfter laut losprusten. Die Schilderung seiner zahllosen erschütternden Erlebnisse aber erinnern in ihrer packenden Eindringlichkeit stark an Karl Phillip Moritz, sein „gerader“ und ohne Rücksicht auf Verluste grundehrlicher Charakter lässt pfeilgenau an Johann Gottfried Seume denken.

Nachts, während Frau und Kinder hungerten und froren, verfasste er im ungeheizten Zimmer wie besessen Bücher voller Albernheiten, edierte seine Einmannzeitschrift „Der teutsche Sokrates“ (1822 bis 1830; insgesamt 1.379 Seiten!) und schimpfte auf alle, die nicht Johann Gottlob Heynig hießen. Geschichte, Philosophie, Lebensmitteltechnologie, Theologie, Psychologie – nichts war vor ihm sicher: „Über die ungemeine Schädlichkeit der Brannteweinbrennereyen“ (Altona 1798) geißelte das Profitstreben der Schnapsbrenner während der großen Hungersnöte. In „Africa, geographisch, historisch und philosophisch betrachtet“ (Leipzig 1802) ist bestimmt genau das zu lesen, was der prahlerische Titel verheißt. Die kühne und gleichermaßen grundtörichte Ermahnung „Europas Pflicht, die Türken wieder nach Asien zu treiben, und Griechenland mit dem Occident zu vereinigen“ (Leipzig 1801) schickte Johann Gottlob Heynig dem russischen Zaren Paul I. und bekam erst von dessen Nachfolger Alexander I. zurechtweisende Antwort, während die Griechen ihn für seine Unerschrockenheit heilig sprechen lassen wollten.

Für sein erstes größeres philosophisches Werk „Herausforderung an Herrn Professor Kant in Königsberg, die Hauptsätze seiner Transscendental=Philosophie entweder von neuem zu begründen, oder sie als unstatthaft zurückzunehmen“ (Leipzig 1797) hagelte es Verrisse am laufenden Band. Prima Gelegenheit für Johann Gottlob Heynig, eine Kohle nachzulegen: „Abgepreßte Erklärung an die Philosophen und Kritiker in Jena, die angegriffene Kantische Philosophie entweder zu vertheidigen, oder als ungültig zu verdammen“ (Berlin 1799), um 1821 die gültige Ausdeutung der Welt ein für allemal abzuhaken: „Kurze Vertheidigung der Philosophie wider die finstern Geister der Zeit nebst einer Beantwortung der Frage: Was ist Wahrheit?“. Nur mit dem Traktat „Die armen getäuschten Juden! Oder Moses und Messias zum zweyten und letzten Mahl enthüllt“ (Köln 1798) war ihm ein unverzeihlich dämlicher Anbiederungsversuch an die finsteren Geister seiner Zeit aus den Fingern gerutscht.

Stänkern, wo es geht, lautete Johann Gottlob Heynigs Devise, könnte man behaupten. Und das dürfte neben einer zäh verwurzelten Publikationswut das einzig große Talent gewesen sein, womit der Herr ihm Gnade zuteil werden ließ. Nur hatte er sich ganz bestimmt die falsche Zeit, fast immer die falschen Feinde ausgesucht und ein Vielfaches mehr einstecken müssen, als ihm auszuteilen gelang. Ein Spaßvogel? Bedingt. Zeitlebens ein Pechvogel ist er gewesen und exemplarisch ungeschickt im Taktieren: Die Habilitierung wurde ihm verwehrt, und Pfaffe wollte er nicht werden. Also zog er mit Kind und Kegel zu Fuß von seiner Heimatstadt Plauen nach Wittenberg, Jena, Göttingen, Berlin, Heidelberg, Straßburg, Mannheim und Dresden, stets unbedeutender werdenden Pöstchen hinterher. Unermüdlich wetterte er gegen vermeintliche Raubdrucker seiner Texte und gegen „Elemente“, die ihm sinnentstellende Fehler hineinsetzten, bis er, gramgebeugt und von allen verhöhnt, 1837 starb. Vieles davon kann man erstaunlich frisch und ergreifend nachlesen in „Johann Gottlob Heynig’s, gegenwärtig Privatgelehrten zu Straßburg kurzgefaßte Lebensgeschichte nebst einem räsonnirenden Verzeichniß seiner Schriften“ (Straßbourg 1806 und 1809). Nur müsste die wieder mal jemand drucken.

Denn, wie auf beharrliches Fragen zu erfahren ist, hielt es die Nachwelt, die sich ja sonst mit verblichenen Feinden selten schwer tut, bisher nicht für nötig, auch nur Teile seines amüsanten Wirrsinns wieder aufzulegen. MICHAEL RUDOLF