Der Krieg ist neu entflammt

Sunniten und Schiiten kämpfen gegen die USA. 300 Tote allein in Falludscha. Der Schiitenführer al-Sadr wird vom Außenseiter zum Helden der Iraker

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Es sollte ein Festtag werden, der Tag, ein Jahr nachdem die Bilder vom Sturz der Saddam-Statue im Zentrum Bagdads rund um die Welt gegangen sind. Stattdessen war es am Freitag nahezu unmöglich, die Feuer an den verschiedenen irakischen Fronten im neu aufgeflammten Krieg zu zählen. Die Lage war so unübersichtlich, dass es anscheinend zu offenen Unstimmigkeiten zwischen der zivilen US-Besatzungsverwaltung und der amerikanischen Armeeführung kam. Denn nach fünf Tagen Offensive „Wachsame Entschlossenheit“, mit der die US-Armee die heftig umkämpfte Stadt Falludscha, Hochburg der sunnitischen Guerilla, befrieden will, verkündete US-Zivilverwalter Paul Bremer am Freitagmittag einen zeitlich nicht definierten Waffenstillstand. Als Ziel der Waffenruhe nannte Bremer Gespräche mit den lokalen Scheichs, um Hilfslieferungen in die Stadt zu ermöglichen. Der Waffenstillstand war gerade verlesen, da begann die US-Luftwaffe, Falludscha zu bombardieren. Der Sprecher der US-Armee, General Mark Kimmitt, widersprach Bremer und erklärte, es hätte nie ein Waffenstillstandsabkommen zwischen US-Armee und Rebellen gegeben.

Mindestens 300 Irakis sind in der Stadt seit Beginn der Kämpfe ums Leben gekommen. Den US-Marines droht der gefürchtete Häuserkampf. Sie müssen sich Block um Block vorkämpfen und wurden mit Granatwerfern und Panzerfäusten beschossen. Zahlreiche Menschen versuchen, auf Schleichwegen aus der abgeriegelten 250.000-Einwohner-Stadt zu fliehen. Selbst die provisorischen lokalen Krankenstationen schafften es nach Berichten des Fernsehsenders Al-Dschasira nicht mehr, die Verwundeten zu versorgen.

Gleichzeitig brachen in der Stadt Abu Gharib, zehn Kilometer westlich der irakischen Hauptstadt Bagdad auf dem Weg nach Falludscha, heftige Kämpfe aus. Mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bewaffnete sunnitische irakische Kämpfer versuchten die Kontrolle über die dort verlaufende Autobahn nach Jordanien und Syrien zu übernehmen.

Auch die schiitische Front kam nicht zur Ruhe. Der US-Oberbefehlshaber im Irak, General Sanchez, erklärte, dass die Armee alles tun werde, um die Milizen Muktada al-Sadrs „auf dem Schlachtfeld zu besiegen“, gab aber zu, dass die südirakische Stadt Nadschaf, der Sitz der schiitischen religiösen Führung, inzwischen von ebendiesen Milizen kontrolliert wird. Sadr hatte seine Anhänger diese Woche zum Aufstand gegen die Besatzer aufgerufen. Immerhin haben die US-Truppen nach eigenen Angaben inzwischen wieder die an der iranischen Grenze gelegene Stadt Kut zurückerobert, nachdem ukrainische Soldaten sie vor zwei Tagen aufgegeben hatten.

Als besonders explosiv könnte sich die Lage in den nächsten Tagen in Kerbela erweisen. Dort soll das Pilgerfest Arbayin beginnen, in dem die Schiiten um ihren heiligen Imam Hussein trauern. Letztes Jahr waren hunderttausende Schiiten zu diesem Anlass friedlich nach Kerbela gepilgert. Doch im Moment sind dort amerikanische, polnische und bulgarische Truppen in Straßenkämpfe mit den Sadr-Milizen verwickelt. Die haben ihnen ein Ultimatum gestellt, bis zum Beginn des Arbayin die Stadt zu verlassen.

Unterdessen rätseln die Iraker, warum die US-Armee ausgerechnet jetzt eine zweite Front gegen die Schiiten eröffnet hat. Die Amerikaner argumentieren, dass sie gegen Sadr vorgehen mussten, weil er eine illegale Miliz führe. Für die meisten Iraker ist das ein fadenscheiniges Argument, denn fast alle größeren schiitischen politischen Gruppierungen verfügen über Milizen, die mehr oder weniger offen in den schiitischen Städten operieren.

Viele Iraker meinen, dass die US-Armee Stärke zeigen wollte, nachdem vor zwei Wochen Bilder um die Welt gingen, wie ein Mob in Falludscha die Leichen von vier Amerikanern verstümmelte, und dass der seit Monaten gegen die Besatzung predigende Sadr das vermeintlich einfachste Opfer der Revanche darstellte, weil er mit seien radikalen Ansichten nur begrenzt Rückhalt genießt.

Stimmt, das, dann haben sich die US-Besatzer offensichtlich verrechnet. Noch vor zwei Wochen war der Hitzkopf Sadr den meisten Schiiten suspekt. Jetzt haben ihm die Amerikaner den Gefallen getan und ihn zum Helden gemacht. Gemäßigtere Schiiten, wie Groß-Ajatollah Sistani, trauen sich nicht mehr, ihm direkt Einhalt zu gebieten. Sadr profitiert von einem wachsenden Unmut der Schiiten gegenüber den Besatzern, nachdem sie diese anfangs noch als Befreier gefeiert hatten. Die Stimmung war in den letzten Monaten umgeschlagen, als die Schiiten den Amerikanern vorgeworfen hatten, bei den blutigen Anschlägen in Nadschaf im Februar, bei denen 170 schiitische Pilger ums Leben kamen, nicht für Sicherheit gesorgt zu haben. Außerdem sind viele Schiiten verärgert, weil sie glauben, dass sie in einer vor zwei Monaten beschlossenen Übergangsverfassung als Bevölkerungsmehrheit nicht genug Rechte zugesprochen bekommen haben. Auch der Termin für allgemeine Wahlen ist nach schiitischem Geschmack in zu weiter Ferne. Noch vor wenigen Wochen machten sie ihrem Unmut in friedlichen Massendemonstrationen Luft, zu denen Sistani sie aufgerufen hatte, jetzt bewundern sie ihren neuen militärischen Helden Muktada al-Sadr.