verächtlichmachung des frühlings von JOACHIM SCHULZ
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Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte – und alles benimmt sich, als ob es sich dabei um eine euphorisierende Superdroge handelte. Auf einmal können Umweltverschmutzung und konjunkturelle Baisse, allgemeiner Weltverdruss und Zwistigkeiten mit den Reihenhausnachbarn niemandem mehr die Laune verhageln. Die Amseln, Drosseln, Finken und Stare sitzen tirilierend in den Bäumen, die Hummeln brummeln übermütig zwischen Narzissen- und Krokusblüten umher, und die Menschen schweben grinsend die Trottoirs entlang, gurren vor lauter Glückseligkeit und kriegen sich nicht einmal mehr im Straßenverkehr in die Haare. Wohin man auch blickt: Urplötzlich scheint die ganze Welt mit einer dicken, klebrigen Zuckergussschicht überzogen zu sein.

Insofern hätte ich gute Lust, auf Gegenkurs zu gehen und den Frühling nach allen Regeln der Schmähkunst verächtlich zu machen. Gibt es nicht genügend Ärgernisse und Skandale, die sich dem Frühling vorwerfen ließen? Aber hallo! Am 17. April des Jahres 1492 wird Christoph Columbus vom spanischen Königspaar dazu ermächtigt, Amerika zu entdecken und damit den Grundstein zu legen für die knapp fünfhundert Jahre später in der Neuen Welt erfolgende Erfindung von neuzeitlichen Plagen wie dem Fast-Food-Restaurant, der Discomusik und der Daily Soap.

In einer lauschigen Nacht des Frühjahrs 1833 wird irgendwo zwischen Spessart und Vogelsberg ein Menschenkind namens Johann Philipp Reis gezeugt, das achtundzwanzig Jahre später das erste Telefon bauen soll und damit die Schuld daran hat, dass wir bei jeder Straßenbahnfahrt und jedem Restaurantbesuch von piependen Handys belästigt werden. Mag sich in Anbetracht dessen noch jemand darüber wundern, dass der 31. Mai alljährlich die Deadline für die Abgabe der Einkommensteuererklärung markiert? Ich jedenfalls finde das ziemlich logisch.

Auch meine persönliche Biografie strotzt geradezu vor Frühlingsdebakeln. Am 29. März 1975 versiebte ich im Endspiel unserer Fußball-Hinterhofmeisterschaften den entscheidenden Elfmeter. Drei Jahre später am Ostermontag beendete meine Jugendliebe die erste Romanze meines Lebens nach nur fünf Tagen Dauer mit der nüchternen Mitteilung: „Damit du Bescheid weißt: Ich geh’ jetzt mit Jens-Peter. Tschüss!“ Und schließlich bin ich mir absolut sicher, dass auch Oberstudienrat Dieckpaster, der Plagegeist meiner Schulzeit, an einem verdammungswürdigen Frühlingstag der späten Fünfzigerjahre den Entschluss gefasst haben muss, sein Leben der Kujonierung wehrloser Jugendlicher zu widmen und Französischlehrer zu werden.

So viel Material ich aber auch sammle, um dem argen Lenz endlich den Prozess zu machen – es will und will nicht gelingen: Kaum höre ich die Vögel zwitschern, kaum sehe ich die Hummeln brummeln, schwebe ich ganz automatisch wie Millionen meiner Artgenossen nur noch grinsend und gurrend durch die Gegend, als ob ich nicht genau wüsste, dass es demnächst mal wieder unumgänglich sein wird, mich über das vermaledeite Formular der Einkommensteuererklärung zu beugen. Es ist wirklich zum Haareausraufen.