„… die Angst, meine Angst“

Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer verband eine lebenslange Freundschaft mit vielen Tiefpunkten, aber ohne sichtbares Ende. Nun ist ihr Briefwechsel erschienen

VON RUDOLF WALTHER

Dem Filmkritiker und Feuilletonisten Siegfried Kracauer (1889–1966) und dem Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969) war eines gemeinsam – sie stammten beide aus Frankfurt. Sonst unterschieden sie sich in fast allem.

Kracauer war vierzehn Jahre älter als Adorno und studierte Soziologie, Philosophie, Ingenieurwesen und Architektur. Bloße „Brotberufe“ stießen ihn ab. Erst mit 32 Jahren fand er eine feste Stelle im Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Ganz anders der jüngere Adorno: ein genialisches Wunderkind, musikalisch ebenso begabt wie intellektuell. Er bestand sein Abitur als „Bester von allen“ mit 18 Jahren, mit 21 Jahren promovierte er und drei Jahre später legte er seine erste Habilitationsschrift vor, die abgelehnt wurde. Mit der zweiten klappte es, und Adorno wurde Privatdozent mit 28 Jahren.

Kracauers und Adornos Weg kreuzten sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs und verknoteten sich lebenslang – mit Höhen und Tiefen, Spannungen und Abgründen. Zum Bund der zwei gehörte ab etwa 1921 auch der Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal (1900–1993), zu dem die beiden jedoch nach Löwenthals Heirat 1923 auf Distanz gingen.

Zwischen Adorno und seinem älteren Mentor Kracauer entspann sich eine zunächst nahe, nach den rund 300 erhaltenen Briefen zu schließen, zumindest am Anfang auch erotisch unterlegte Beziehung. Gleich der erste Brief vom 5. April 1923 handelt von „quälender Liebe“ und „brennender Sünde“ sowie der dringenden Bitte: „Niemand darf den Brief sehen, hab Acht, Teddie. Du bist 19 – ich 34 – geht es doch?“

Es ging nicht. Adorno verabschiedete sich für zwei Jahre nach Wien, berichtete dem gequälten Freund von seinen Beziehungen zu ehrbaren und weniger ehrbaren Mädchen und beschwor gleichzeitig „die Angst, meine Angst, Dich zu verlieren“. Nach jahrelangen Zerknirschungen und Konflikten, in denen Adorno gelegentlich ganz unfein den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches (Strafbarkeit von Homosexualität) ins Spiel brachte, kam es 1929 zum Rückzug Adornos, wenn auch nicht zum Bruch. Beide heirateten.

Geradezu niederschmetternd belegt der Briefwechsel, wie naiv Adorno in politischen Dingen war. Zunächst las er gar keine Zeitung, dann zwar „häufiger“, aber in seinen erhaltenen Briefen spielen die Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und der Aufstieg der Nazis ebenso wenig eine Rolle wie der Faschismus in Italien, wohin er mehrmals reiste. Kracauer traute dem Freund wohl politisch nicht besonders viel zu, denn er verschonte ihn von Mitteilungen über den lange vor 1933 einsetzenden Rechtskurs der Frankfurter Zeitung.

Zwischen Ende 1931 und April 1933 war Kracauer in der Zeitung neben antisemitischen Zurücksetzungen nicht weniger als fünf Gehaltskürzungen ausgesetzt. Kracauer sprach von seiner „Liquidierung als geistige Kapazität“. Der dezente und präzise Anmerkungsapparat des Briefwechselbandes dokumentiert die systematische Ausgrenzung des jüdischen und linken Feuilletonisten Kracauer leider unzureichend.

Kracauer ahnte schon 1930, was kommen sollte, und floh einen Tag nach dem Reichtagsbrand nach Paris, wo er für acht Jahre unter schwierigsten Verhältnissen lebte und von wo er 1941 in die USA entkam. Adorno sprach dagegen noch am 15. April 1933, also nachdem eine Notverordnung die Grundrechte außer Kraft gesetzt hatte und Parteien verboten worden waren, davon, es herrsche „völlige Ruhe und Ordnung“ im Land, und riet dem Freund ernsthaft, „nach Deutschland zurückzukommen“.

Das Institut für Sozialforschung gewährte Kracauer zwar ein kleines Stipendium für die Ausarbeitung eines Artikels über „Masse und Propaganda“. Aber das Manuskript kürzte Adorno um vier Fünftel und entstellte es so, dass Kracauer sein Imprimatur verweigerte.

Während Adorno als Statthalter Max Horkheimers in Europa bis 1938 zwischen Oxford, London, Paris, Frankfurt und San Remo pendelte, schrieb Kracauer sein Buch über „Jacques Offenbach“, um sich über Wasser zu halten. Adorno fertigte es öffentlich als „Roman-Biographik“ ab und warf Kracauer in einem Brief sogar vor, „nationalsozialistisches Gedankengut“ zu vertreten. Das empfand dieser als „törichte Kritik“, entsprungen der „Verblendung“, die alles nach den Adorno gerade „geläufigen Kategorien“ zurichte. Nach dem Krieg blieb Kracauer in den USA im Unterschied zu Adorno, der am 30. September 1953 in Frankfurt zum außerordentlichen Professor für Philosophie und Soziologie ernannt wurde.

Die beiden blieben in höflichem Kontakt zueinander, schickten sich Sonderdrucke und Bücher zu und trafen sich mehrmals in Frankfurt. Dieser Teil des Briefwechsels dokumentiert vor allem die ungeheure Arbeitswut, die Adorno entfaltete, und die Energie, die er – obwohl Verächter der „Kulturindustrie“ – darauf verwandte, sich selbst in Radio und Fernsehen zu vermarkten. Allerdings – ein Rückschluss von den Abgründen, die sich öffnen, wenn man Adornos Umgang mit Kracauer betrachtet, auf sein Werk ist nicht statthaft.

Ein solcher Abgrund öffnete sich zuletzt 1964 in Adornos Aufsatz zu Kracauers 75. Geburtstag. Wie fast 30 Jahre zuvor erhob er erneut den nur wenig camouflierten Vorwurf, Kracauers Durchbruch als Autor sei erkauft mit „erfolgreicher Anpassung“ aus „expansiver Selbsterhaltung“. Kracauer beendete die Freundschaft nicht, sondern verlangte nur, die Diskussion zu beenden. Doch auch das Recht dazu beanspruchte Adorno für sich mit dem Hinweis darauf, er sei der Angegriffene! Einen Tag vor Kracauers Tod (26. 11. 1966) erschien Adornos monumentale „Negative Dialektik“, über deren Entstehung er den Freund während sieben Jahren minutiös auf dem Laufenden gehalten hatte.

Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966: „Der Riss der Welt geht auch durch mich“. Hg. v. Wolfgang Schopf, Suhrkamp Verlag, Franfurt am Main 2008, 770 Seiten, 32 Euro