Luftlöcher im Schnee

Vor 30 Jahren zog Hermann Albers auf Skiern los, am Deich seine eingeschneiten Schafe zu suchen. Den Rückweg im Schneesturm fand der heutige Chef des Bundesverbandes Windenergie nur knapp

VON JENS REIMER PRÜSS

Schafe gelten gemeinhin nicht als intellektuell begabte Spezies, doch in manchen Krisensituationen wissen sie sich zu helfen. Als sich der große Schnee im Dezember 1978 auch über die Halbinsel Eiderstedt breitete, kuschelten sich die Tiere hinterm Deich aneinander, zehrten von dem, was sie auf den Rippen hatten, verließen sich auf ihre Wollkleidung und atmeten tief durch – so dass an den Luftlöchern im Schnee zu erkennen war, wo sie waren.

Jedenfalls taten das die Schafe von Hermann Albers, oder besser: dessen Vater, denn er selbst war erst 18 und noch nicht „de Buur“ – aber alt genug, um sich auf Skiern mit so viel Heu, wie er transportieren konnte, auf den Weg zu machen. Die Versorgung der Schweine war schon schwierig genug, das Schrot irgendwann alle, aber es gab einen Hubschrauber, der dramatisch den Schnee aufwirbelte und Futter anlieferte.

Die Schafe waren als genügsam bekannt, aber tagelang unversorgt sollten sie besser nicht bleiben. Der einsame Langläufer wusste ungefähr, wo sie waren, und fand auch hin – mit Hilfe der Atemlöcher. Noch war das Wetter erträglich und die Sicht einigermaßen. Das sollte sich ändern.

Hermann Albers hatte nach getaner Fütterung das Angebot ausgeschlagen, sich bei den Bewohnern eines in der Nähe stehenden Hauses aufzuwärmen, und den Rückweg angetreten. Eine Entscheidung, die er spätestens bedauerte, als der Schneesturm neu losheulte und im Handumdrehen eben diese nicht mehr vor Augen zu sehen war. Tiefer wurde der Schnee, schwerer fiel jeder Schritt und dass er sich noch auf den heimischen Hof zubewegte, konnte er nur hoffen. Längst hatten die Angehörigen begonnen, sich Sorgen und Vorwürfe zu machen.

Fast tragikomisch der Gedanke, dass solches in Nordfriesland geschehen konnte, im Norden Schleswig-Holsteins, wo nur die Geschichte erhebungsreich, die Marsch hingegen platt ist, wo nur die Gehöfte von ein paar Bäumen umstanden sind, wo man stundenlang dahinziehende Wolken beobachten kann und wo es die kaum übertriebene Redensart gab: In zwei Stunden kommt Besuch, man sieht ihn schon am Horizont.

Jetzt gab es keinen Horizont, nur heulenden Sturm, wirbelnde Schneeflocken, vereisende Augenbrauen und Bart, kriechende Kälte und allmählich auch kriechende Panik – und dann plötzlich doch ein schemenhaftes Etwas, das sich als „Telegrafenmast“ herausstellte – so nennt man sie heute noch, obwohl schon damals kaum jemand mehr telegrafierte. Der Mast und einige andere, die sich in der richtigen Linie vermuten ließen, waren die Orientierung und Rettung. Entkräftet erreichte er schließlich die Wohnstube. Die Skier wurden noch lange in Ehren gehalten.

Nicht für alle, die sich in jenen Tagen draußen verirrt hatten, der Pflicht oder dem Übermut folgend, ist es gut ausgegangen. Es gab Todesopfer und es gibt die Erkenntnis, dass wir gegen die Naturgewalten inzwischen allerlei zivilisatorisches Gerät aufbieten können – das aber keine letzte Sicherheit garantiert.

Hermann Albers ist heute Präsident des Bundesverbands Windenergie e. V. Diese Methode der Energienutzung wirkt in bescheidenem Umfang dem Klimawandel entgegen. Den wiederum verbindet man eher mit globaler Erwärmung mit solchen Schneemassen wie vor 30 Jahren. Andererseits kommt die nächste Eiszeit bestimmt.

Was folgern wir daraus? Eng aneinander kuscheln und durchatmen, würden die Schafe raten. Vielleicht.