Die eisige Katastrophe

Vor 30 Jahren versank Norddeutschland unter meterhohen Schneemassen. Der tagelange Sturm lähmte eine hoch technisierte Gesellschaft. Sechs Wochen später schlug der Winter erneut zu

VON SVEN-MICHAEL VEIT

Für den 29. Dezember 1978 prophezeit der Wetterbericht nach der ARD-Tagesschau für Norddeutschland länger anhaltende Niederschläge, „östlich der Elbe Schnee, sonst Regen“. Bei Tiefsttemperaturen von plus zwei bis minus drei Grad solle ein „mäßiger bis frischer und böiger Wind“ wehen. Zu diesem Zeitpunkt kündigen an der Ostseeküste kräftiger Wind aus Nordost und dichter werdendes Schneetreiben eine zumindest ungemütliche Nacht an.

Kaum zwei Stunden später ist daraus ein Unwetter geworden, spätestens am nächsten Morgen eine Katastrophe. Schleswig-Holstein ist unter meterhohen Schneemassen begraben, der Westen von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des nördlichen Niedersachsens ebenfalls. Hamburg bleibt weitgehend verschont.

Der schneidende Wind häuft den Schnee an jedem Widerstand zu bis zu sieben Metern hohen Wehen auf. Straßen sind unpassierbar, Menschen frieren dort in tausenden Autos vor sich hin, Züge haben sich auf den Bahnstrecken festgefräst, mehr als 100 Dörfer sind von der Außenwelt abgeschnitten, an der Ostsee türmt der Orkan Eisschollen auf dem Strand zu meterhohen Barrieren.

Bei Temperaturen bis zu minus 20 Grad fällt der Strom aus. Das Gewicht von bis zu 30 Zentimeter dicken Eispanzern hat Überlandkabel zerrissen und lässt Strom- und Telefonmasten einknicken. Menschen sitzen bei Kerzenlicht in ihren kalten Häusern und Wohnungen, zehn sterben. Die letzten Opfer werden erst im Frühjahr geborgen, nach der Schneeschmelze. Auf dem Land erfrieren Hühner, Schweine und Kühe in den Ställen, die Schafe auf Wiesen und Deichen. Später werden die Schäden auf 140 Millionen D-Mark beziffert, etwa 70 Millionen Euro.

Die Behörden geben Katastrophenalarm und erlassen Fahrverbote. Die Bundeswehr setzt Bergepanzer und Hubschrauber ein, um Eingeschneiten zu helfen und Kranke in Kliniken zu transportieren. Aus batteriebetriebenen Kofferradios gibt der NDR Tipps zum Überleben ohne Heizung und Elektroherd.

Erst am Neujahrstag lässt der Schneefall nach. Nur vier Tage haben ausgereicht, um eine hoch technisierte Gesellschaft vollständig zu lähmen. Die Eismassen an den Stränden aber sind bei strahlender Januarsonne und weiterhin bitterer Kälte von bizarrer Schönheit.

„Eine Schneekatastrophe wie diese gibt es vielleicht alle 100 Jahre einmal“, beruhigt Innenminister Rudolf Titzck (CDU) im Kieler Landtag. Sein Jahrhundert dauert nur sechs Wochen: Am 14. Februar 1979 wiederholen sich die Ereignisse. Wieder heulen drei Tage lang orkanartige Schneestürme über Norddeutschland. Schleswig-Holstein verhängt Fahrverbote, tagelang fällt die Schule aus und Menschen machen sich mit Schlitten auf zu Hamsterkäufen.