Arbeitslosigkeit schöngerechnet

betr.: „Vielen fehlt mehr als ein Job“, taz vom 17. 12. 08

Vielen fehlt mehr als ein Job: Vielen fehlen mehrere Jobs, einer allein macht oftmals nicht satt, die Vermittlerin bietet der Arbeitsuchenden auch Minijobs und Nebentätigkeiten an. Selbst bei 7,50 Mindestlohn sind Sie mit 35 Stunden als Alleinstehende/r gerade so eben über Hartz IV hinaus. Es fehlen existenzsichernde Arbeitsplätze, ganz viele. Die Arbeitslosigkeit wird schöngerechnet. Angeblich haben wir drei Millionen Arbeitslose. Aber sechs Millionen Menschen kriegen Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II, dazu kommen die arbeitslos Gemeldeten ohne Leistungsbezug, und dazu noch diejenigen in der stillen Reserve, die Arbeit suchen und sich nicht mehr beim Amt melden. Wenn sie nicht pünktlich zum Amt kommen, werden ihnen 10 Prozent abgezogen, wenn sie die Nachweise über die beispielsweise fünf Bewerbungen im Monat nicht vorlegen, werden 30 Prozent abgezogen. Dabei erwartet kaum jemand, dass aus solchen Besuchen oder Bewerbungen eine Beschäftigung kommt. Das machen die Menschen nicht aus positiver Aussicht auf eine Stelle, sondern um Sanktionen vom Amt zu vermeiden. In meiner Heimatstadt Münster verhängten die Arbeitsvermittler im ersten Halbjahr 2008 doppelt so viele Sanktionen, wie sie Stellen vermittelten.

Die einzelnen Arbeitsvermittler haben 400 oder 500 Arbeitslose zu verwalten. Sie sollen Erfolge dokumentieren, wo keine Erfolge zu erzielen sind. Sie müssen ihre erfolglosen Maßnahmen gegen die weiter andauernde Arbeitslosigkeit der einzelnen Arbeitslosen dokumentieren. Wie soll die im Artikel vorgestellte Arbeitsvermittlerin eine positive Erwartung aufbauen als Grundlage für erfolgreiche Vermittlungsarbeit, wenn kaum ein Erfolg zu erwarten ist? Wenn sie keine Zeit hat, den Arbeitsmarkt zu erforschen? Wie soll sie die einzelne Arbeitslose und ihre beruflichen Aussichten überhaupt kennen? Wie soll sie einen objektiven Blick auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen entwickeln können, wenn sie selbst in der Agentur für Arbeit durch die Mühle von befristeten Jobs subjektiv erleben musste, dass es gesicherte Erwerbsaussichten nicht gibt. Viele von ihren Kollegen werden rausgefallen sein, sie darf noch froh sein.

Natürlich hat sie mit vielen Entmutigten zu tun, die gar nicht mehr erwarten, dass sie auf dem Amt irgendeine Arbeit vermittelt kriegen. Da dient die Sanktion als Selbstzweck des Arbeitsvermittlers, der dokumentieren kann, dass der Einzelne nicht integrationswillig ist. Und als Beleg der Hartz-Politiker, die immer schon wussten, dass die Leute selbst vor die Hunde gehen wollen und dass nicht der Kapitalismus die Ursache ist für ihre Armut und Arbeitslosigkeit. ARNOLD VOSKAMP, Münster