Die unerhörte Kritikbehörde

Lässt sich Lebensqualität in Einheiten, in Euro und Cent, umrechnen? Was dürfen leidensfreie Jahre kosten?

von ULRIKE WINKELMANN

„Das Institut“ bringt die Ärzte in Wallung. Der „Weg in die Planwirtschaft“ werde damit geebnet, es drohten „Zuteilungs-“ oder auch „Programmmedizin“, gar „DDR-Verhältnisse“! So und ähnlich ist es auf jeder öffentlichen Veranstaltung der Ärzteschaft zu hören. Und die Pharmaindustrie ist sowieso dagegen. Auch die Unionsparteien haben sich eingeschossen: Befragt, was er von den rot-grünen Sozialreformen hält, sagt etwa der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU): „Sozialistische Staatsmedizin ist mit uns nicht zu machen.“

Was Koch, jüngst am Herzen operiert, meint: Auch er ist gegen das „Deutsche Zentrum für Qualität in der Medizin“. Mit Sicherheit ist dieses von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) geplante Institut das meist umstrittene Teilstück der Gesundheitsreform. Doch Schmidt will das Institut unbedingt realisieren. Bei den anstehenden Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition wird es also eine entscheidende Rolle spielen.

Komisch eigentlich. Was soll daran so außergewöhnlich sein, wenn ein paar Wissenschaftler sich über Qualität, Kosten und Nutzen von Medikamenten und ärztlicher Behandlung Gedanken machen?

Für das deutsche Gesundheitswesens wäre das Institut etwas Unerhörtes: eine Art Kritikbehörde. Der Staat würde dem Selbstverwaltungsbetrieb aus Ärzteschaft und Krankenkassen ein Über-Ich verpassen. Als Anstalt öffentlichen Rechts, so will es die Regierung, soll das Institut Leitlinien für Therapien formulieren, die Fortbildung von Ärzten kontrollieren und vor allem: Kosten-Nutzen-Berechnungen von Medikamenten anstellen. Das Gesundheitsministerium rechnet mit 25 Millionen Euro Einrichtungskosten.

In einer Geschäftsstelle sollen zwei Direktoren und fünf Beiräte mit wissenschaftlichen Mitarbeitern sitzen. Die Geschäftsstelle wird Aufträge von Krankenkassen und Ministerium entgegennehmen und dann seinerseits Studien etwa bei Universitäten im In- und Ausland anfordern. Ein Kuratorium soll über das Schaffen des Instituts wachen. In dieser Runde säßen dann Ärzte- und Kassenvertreter, aber auch Patienteninitiativen und das Ministerium selbst.

Bisher entscheiden Ärzte und Kassen in ihren Gremien darüber, ob ein Medikament, eine Therapie etwas taugen und ob sie von den Kassen bezahlt werden soll. Die dafür zuständigen Ausschüsse tagen in berüchtigter Abgeschlossenheit, lassen sich weder in die Karten gucken, noch begründen sie öffentlich ihre Entscheidungen.

Das Institut würde diese Entscheidungen überprüfen, und es würde eigene Empfehlungen aussprechen. Der Pharmakologe Gerd Glaeske, einer der Väter der Institutsidee, erzählt hierzu gerne die Viagra-Geschichte. Als Viagra 1998 auf den Markt kam, entschied sich der „Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen“ dagegen, dass das Potenzmittel kassenfinanziert werden solle. „Aber unter der Hand“, sagt Glaeske, „strich man auch alle schon vor Viagra verschriebenen Potenzmittel für Diabetiker, Behinderte und so weiter. Diskutiert wurde darüber nicht, betroffen waren zehntausende Männer.“

Glaeske, aber auch andere Befürworter des Instituts wie der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, werfen den Ärzte-Kassen-Gremien vor, dass ihre Entscheidungen zu oft von eigenen Interessen geprägt seien und zu wenig von der Frage, was Patienten wirklich nutzt. „Die entscheidenden Studien darüber kommen dann aus dem Ausland“, sagt Glaeske – etwa Anfang des Jahres die einer US-amerikanischen Studie zu verdankende Erkenntnis, dass die Hormonbehandlung von Frauen in den Wechseljahren „nicht nur überflüssig ist, sondern schadet“.

Aber wer kann immer so genau sagen, was nutzt? Die Ärzteschaft gibt sich sicher, mit ihren eigenen Instanzen ausreichend Selbstkontrolle auszuüben. „Das Institut wird ein bürokratisches Monstergebilde, das dem einzigen Zweck der Rationierung dient“, sagt Ursula Auerswald, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer. Dies sei im Übrigen auch der Sinn der ausländischen Vorbilder des Instituts, etwa des NICE in London. NICE steht für National Institute of Clinical Excellence. Es ist als Behörde eingerichtet worden, um dem staatlichen Gesundheitssystem NHS, National Health Service, Vorgaben zu machen. Ein deutsches NICE würde den Spardruck der Regierung unmittelbar in Therapievorgaben ummünzen, fürchtet Auerswald: „Natürlich wird es da nur um die billigsten Lösungen gehen, nicht um die besten.“

Etwas verhaltener äußert sich der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft, Bruno Müller-Oerlinghausen. „Die Ärzteschaft hat in der Vergangenheit nicht immer rechtzeitig reagiert, wenn sich Therapien oder Medikamente als unwirksam erwiesen“, gibt er zu. Er meint, man könne die Aufgaben des Instituts verteilen: Die Formulierung von Leitlinien für bestimmte Therapien und die Fortbildungsbestimmungen „übernimmt die Ärzteschaft besser selber“, sagt er.

Anders jedoch die Kosten-Nutzen-Analyse von Medikamenten: „Eine kontinuierliche Bewertung der Preiswürdigkeit ist notwendig“, sagt Müller-Oerlinghausen. Zu lange hätten die Ärzte in der Illusion gelebt, sie brauchten sich mit ökonomischen Fragen nicht zu befassen. „Aber wir müssen die Hand zu diesem bösen Spiel reichen“, formuliert Müller-Oerlinghausen, „da kommen wir nicht drumrum.“ Sein Vorschlag ist, die Kosten-Nutzen-Überprüfung bei der Selbstverwaltung von Ärzten und Kassen anzusiedeln.

Wobei bislang niemandem so klar ist, wie man eigentlich das Verhältnis von Kosten und Nutzen eines Medikaments berechnen und beurteilen soll. Schließlich ist es das eine, in Langzeitstudien zu erfassen, ob ein Mittel überhaupt wirkt. Das andere jedoch ist, zu berechnen, ob ein neu zugelassenes Mittel so viel besser wirkt, dass dafür der für innovative Medikamente übliche teurere Preis bezahlt werden kann. Wenn eine neue Grippepille nun auch gegen Mundgeruch hilft – darf sie dann doppelt so viel kosten wie die schon zugelassenen Grippepillen? Lässt sich Lebensqualität in Einheiten ausdrücken? Kann man die Lebensjahre eines Menschen, die dieser dank eines neuen Medikaments weniger leidvoll verbracht hat, in Euro und Cent umrechnen? Glaeske und Müller-Oerlinghausen geben zu, dass die deutsche Wissenschaft hier noch ihren Weg finden müssen wird.

Doch ob sie dazu überhaupt kommt, bleibt abzuwarten. Denn die Kosten-Nutzen-Rechnung – im Jargon spricht man von der „vierten Hürde“, die ein Medikament nach den ersten drei Hürden der Zulassung „1. Wirksamkeit“, „2. Unbedenklichkeit“ und „3. Qualität“ zu nehmen hat – ist genau, was die Pharmaindustrie verhindern will. Sie möchte schließlich für jedes neu auf den Markt zu drückende Medikament den höchstmöglichen Preis erzielen. Und es ist in der Vergangenheit nahezu unmöglich gewesen, der deutschen Pharmabranche Beschränkungen aufzuerlegen. Das Arbeitsplätze-Argument von Aventis, Bayer und Co zieht immer. Und so sagt auch etwa Stefan Oschmann, Deutschlandchef der US-Pharmafirma Merck unmissverständlich: „Wenn das Institut kommt, werden wir den Standort Deutschland grundsätzlich neu bewerten.“

Und so ist wiederum auch etwa Roland Kochs Engagement gegen das Institut zu bewerten: Dass dieser sich neuerdings so vehement gegen „Staatsmedizin“, also das Institut, engagiert, hat deutlich mit dem Aventis-Standort Hessen zu tun. Welche Pharmaunternehmen bei ihnen zu Hause ansässig sind, wird auch die anderen Verhandler im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat bewegen, wenn das Gesundheitsreformgesetz inklusive Institut hier auf dem Tisch liegt. Wer da wohl wem zu welchem bösen Spiel die Hand reicht? Vielleicht werden Patienten eines Tages vom Arzt hören: „Nein, diese Pille hat das Institut für unwirksam erklärt“. Oder wird es heißen „für zu teuer“?