„Das Einfachste wäre, alle Armen zu befreien“

Wohlfahrtsverbands-Chefin Stolterfoht zur Frage, welche Patienten von Praxisgebühr & Co entlastet werden müssten

Frau Stolterfoht, Sie behaupten, bei rund 400.000 Menschen – Obdachlose, alte und behinderte Heimbewohner und Junkies – gebe es seit der Gesundheitsreform „Versorgungslücken“. Welche?

Barbara Stolterfoht: Wir bekommen Rückmeldungen aus unseren Landesverbänden und Mitgliedsorganisationen, dass diese Leute nicht mehr zum Arzt gehen, obwohl sie es nötig hätten. Ausgerechnet die, die arm und gesundheitlich am meisten belastet sind, bleiben also dem Arzt fern. Das ist gesundheitspolitisch kein Erfolg, sondern eine Katastrophe.

Wie wollen Sie nachweisen, dass jemand kränker wird, weil er nicht mehr zum Arzt geht?

Ich finde, man muss nicht nachweisen, dass die Ärmsten arm dran sind. Leider zeichnet sich unser Gesundheitssystem gerade dadurch aus, dass die Effizienz überhaupt nicht gemessen wird. Es ist doch aber klar, dass ein Heimbewohner mit 80 Euro Taschengeld im Monat mit dem Arztbesuch so lange wartet, bis es gar nicht mehr geht. Dass er die rezeptfreien Arzneimittel einfach nicht mehr kauft. Und dass sich damit der Gesundheitszustand verschlechtert.

Gilt nicht die Regel: Gesund bleibt, wer nicht zum Arzt geht?

Das gilt für Sie und für mich. Ein Wohnungsloser, der seinen vereiterten Zahn oder die anderen eitrigen Wunden nicht behandeln lässt, wird früher sterben. Wir haben diese Fälle noch nicht quantifiziert, aber das werden wir tun.

Sie verlangen, dass Obdachlose, Heimbewohner und Junkies von Praxisgebühr und Zuzahlungen befreit werden. Wie wollen Sie diese Gruppen von anderen Armen abgrenzen?

Die werden ja alle irgendwo betreut. Selbst wohnungslose Stadtstreicher haben Anlaufstellen, wo sie ihr Geld abholen. Hier kann man ansetzen.

Wie erklären Sie das der allein erziehenden Mutter auf Sozialhilfe? Andere Gruppen wollen dann auch befreit werden.

Wir können die Absurditäten der Gesundheitsreform nicht beseitigen. Natürlich wird es neue Abgrenzungsprobleme geben und damit neue Bürokratie. Aber die jetzt gefundene gesetzliche Regelung ist ja auch hochgradig bürokratisch. Das Einfachste wäre natürlich, unserem ursprünglichen Vorschlag zu folgen und wie früher alle Sozialhilfeempfänger und Geringverdiener von Zuzahlungen zu befreien. Die Gesundheitsreformer haben sich dagegen entschieden.

Fast eine Million Menschen sind bereits von Praxisgebühr und Co befreit. Zeigt das nicht, dass die Befreiung funktioniert?

Nein. Denn befreit wird nur, wer in der Lage ist, einen entsprechenden Antrag einzureichen. Ein zuckerkranker Obdachloser wird diese Aufgabe nicht bewältigen. Eine alleinstehende, demente Dame ohne Kinder schafft das auch nicht. Die Krankenkassen werden wesentlich mehr Geld von Menschen einnehmen, die eigentlich befreiungsberechtigt sind, die das aber nicht geregelt kriegen. Wir fordern deshalb, dass die Gesundheitsministerin Kommunen, Kassen und Verbände an einen Tisch lädt und mit uns darüber redet, wie diese Härten aus der Reform genommen werden.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN