Nord-Süd-Gefälle im Kinderbücherschrank

Im reichen Süden der Ruhrstädte lassen sich leicht Lesepaten für Vorschulkinder finden, in die Kindergärten im Norden trauen sich die wenigsten. Gerade dort haben die Kinder jedoch einen großen Bedarf an Sprach- und Leseförderung

RUHR taz ■ In Essen sind die Kinder lesefaul. Deshalb gibt es dort „Lesepaten“: Ältere Damen und Herren erzählen ehrenamtlich dem Nachwuchs in Kindertagesstätten und Kindergärten Geschichten, um diese zum Selberlesen zu animieren. Doch es bedurfte eines Medienberichts, um VorleserInnen für Kinder im Essener Norden zu finden. Nach einem Aufruf des im Herbst gegründeten Netzwerks „Essen liest vor“ hatten sich zu viele Lesepaten für den reichen Süden gemeldet, aber nur eine Handvoll für die Vorschulkinder in den Stadtteilen Katernberg, Stoppenberg oder Altenessen-Süd.

Die nahe liegende Lösung, VorleserInnen vom Essener Süden in den Norden zu importieren, war anfangs auf Widerstand gestoßen: „Der Viehofer Platz ist wie eine magische Grenze“, sagt Eva-Maria Wiegert, Ansprechpartnerin für den Bezirk Stadtmitte. Der Platz trenne den ursprünglichen Stadtkern von den „neuen“ Bergbauvierteln. „Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in diesen Stadtbezirken und einer steigenden Zahl an Migrantenkindern haben die Lesepaten Angst davor, was sie dort erwartet“, sagt Wiegert.

Genau für diese Kinder wäre es aber wichtig, dass ihnen jemand Lust am Lesen verschafft: „Oft steht bei ihnen zu Hause kein Buch“, weiß Wiegert. Die 68-jährige pensionierte Lehrerin hat – obwohl sie aus dem Essener Süden kommt – keine Berührungsängste: „Die Migrantenkinder lassen sich genauso für Geschichten begeistern wie die deutschen.“ Dietger Luithle, Koordinator von „Essen liest vor“, räumt mit einem weiteren Vorurteil auf: „Nur weil die Menschen im Süden mehr Geld haben, widmen sie ihren Kindern nicht mehr Zeit .“ Auch bei ihnen sei Sprach- und Leseförderung notwendig.

Nach der Berichterstattung über mangelnde Interessenten für die Kindergärten im Norden hätten sich nun 14 Freiwillige gemeldet. Die Lesepaten sind meist weiblich, zwischen 40 und 70 Jahre alt, der Großteil von ihnen Erzieherinnen und Lehrerinnen in Rente. Bei den Kindergärten würde er mit seinem Projekt offene Türen einrennen, so der frisch pensionierte Ingenieur. „Wie soll eine Erzieherin mit 20 bis 25 Kindern in ihrer Gruppe sich den Einzelnen intensiv widmen?“ Außerdem lege die Bildungspolitik keinen Wert auf die frühe Förderung der Kinder: Mit Österreich zusammen sei Deutschland das einzige Land der OECD, das seine angehenden KindergärtnerInnen nur auf ein Berufskolleg schicke. „In anderen Staaten haben ErzieherInnen einen Fachhochschulabschluss.“

Seit Kurzem sei die Essener Initiative Partner der bundesweit tätigen „Stiftung Lesen“. Und diese schicke auch Interessenten der benachbarten Ruhrgebietsstädte zu den Essener Vorbereitungsseminaren, denn in Städten wie Gelsenkirchen und Mülheim stecken solche Vorhaben noch in den Kinder schuhen. In den Seminaren werden den Ehrenamtlichen Lesetechniken und Hilfen zur Textinterpretation beigebracht.

NATALIE WIESMANN