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: Survival of the fittest oder: Was passiert, wenn man zu spät zum Gesellschaftsvögeln kommt

Wenn man mal richtig große, unübersichtliche Städte besucht hat, dann kommt einem das Berliner U-Bahn-Netz wie Pillepalle vor. In Moskau muss man allein zehn Minuten Rolltreppe fahren, um tief genug in den Untergrund abzusteigen – in Berlin ist der Alexanderplatz das höchste der Gefühle, und das auch nur, weil die Bauarbeiter seit Jahren eine korrekte Beschilderung verweigern. In New York leben tief unter der Stadt Ratten, groß wie Krokodile – in Berlin sieht man mit etwas Glück hin und wieder niedliche, ubahnkieselgraue Mäuschen, die eifrig zwischen den Schienen hin und her huschen um ein paar Krümel für ihre Mäusebrut zu ergattern.

Gestern Abend habe ich am Hermannplatz eines dieser Mäuschen vor schlimmer Tierquälerei gerettet: Ein dummer Jungmann, der ein paar Meter von mir entfernt auf die U 7 wartete, schnipste plötzlich seine noch brennende Zigarettenkippe in das Gleisbett – genau neben so ein süßes Mäuschen, das versunken an einem Kaugummirest knabberte! Wenn ich nicht rechtzeitig erschrocken aufgeschrien hätte, wäre dem Mäuschen der Pelz angekokelt worden. Und man weiß ja, wie grausam es in der Tierwelt zugeht: Mit Brandlöchern im Pelz hätte das Mäuschen vermutlich keine Schnitte mehr bei potenziellen Partnermäuschen gehabt, so wie diese Albinoaffen, die bei der erstbesten Gelegenheit von den Alphaweibchen oder Silberrücken aus dem Clan aussortiert werden, und weil sie im Dschungel auch noch so furchtbar auffallen, ist es schneller aus mit ihnen, als man „Strähnchenfärben“ sagen kann.

Survival of the fittest eben. Der Rest stirbt aus. Apropos: Beim größten aller Flugsaurier, einem Zwölf-Meter-Flügelspannweite-Wesen, war die Fortpflanzung ebenfalls sehr stark mit Hürden gepflastert, das habe ich in der BBC gelernt. Diese Riesenechse flog zum Vermehren jedes Jahr extrem weite Strecken zum einzigen Liebesnest der urzeitlichen Welt, einem ungastlichen Felsen auf dem südlicheren der beiden Ur-Kontinente. Dazu musste der Echsenmann aber auch noch den strategisch günstigsten Platz zum Balzen besetzen, der sich immer genau in der Mitte der Saurieransammlung befand. Das heißt, wer zu spät zum Gesellschaftsvögeln kam, weil er zum Beispiel älter oder ein bisschen krank war, der hatte schon mal gar keine Chance. Reservieren ging natürlich nicht, und Platz freihalten schon gar nicht.

Ein Glück war dieser Flugsaurus so hässlich, dass mir sein Aussterben überhaupt nichts ausmacht. Er hatte, wie alle Echsen, kein bisschen kuscheliges Fell am Leib, und seine Jungen sahen aus wie er in klein, nichts mit Kindchenschema. So ein Flugsaurusbaby kann nicht mal eine Mutter lieben, glaube ich. Andererseits habe ich neulich noch einen lehrreichen Film über eine andere Großechse gesehen, das Nilkrokodil. Die Protagonistin der Doku, eine 100 Jahre alte Nilkrokodildame, pflegte seit 90 Jahren (ihrer Pubertät) jedes Jahr um die 60 Eier am Nilufer abzulegen, möglichst an einer Stelle, wo der Nilwaran sie nicht finden und verschlucken kann. Wenn die Jungen geschlüpft waren, bugsierte die Krokodame sie ganz vorsichtig in ihrem Maul ins Wasser, sie besitzt zwischen den Zähnen dafür extra Bewegungsmelder, damit sie die kleinen, wirklich nicht niedlichen Krokodilchen nicht aus Versehen zerbeißt. Im Fluss angekommen, lauern aber so viele Gefahren auf die Mini-Echsen, dass meist nur ein Einziges aus dem 60-Eier-Gelege überlebt. Und das wird dann wieder 100 Jahre alt und legt einmal jährlich 60 Eier.

Als die Kamera am Ende des Films auf das kleine, übrig gebliebene Krokodil gerichtet war, auf die fiesen gelben Augen, die spitzen Zähne, die pickelige, hornige Warzenhaut, da verspürte ich auf einmal doch so etwas wie Mitleid mit diesem hässlichen Tier, das eine so schwere Verantwortung zu tragen hat. Mir kullerte glatt ein Krokodilstränchen aus dem Auge. JENNI ZYLKA