Keine Angst, wenn die Wirbelsäule sich biegt

Rückenschulen kommen in die Kritik. Es fehlen die eindeutigen Nachweise, dass sie auch tatsächlich die Schmerzen im Kreuz beseitigen

Gut 80 bis 90 Prozent aller Bundesbürger leiden mindestens einmal in ihrem Leben an Rückenbeschwerden. Eine echte Volkserkrankung also und immer noch eine große Herausforderung für die Medizin.

Unter den zahlreichen angebotenen Vorbeuge- und Therapiemethoden gehörte die Rückenschule bislang zu den wenigen, an deren Wirkung bislang kaum gezweifelt wurde. Zu nahe liegend erschien ihr Ansatz, uns mit Hilfe von spezieller Gymnastik und pädagogischen Maßnahmen zu einem „rückenfreundlichen“ Alltag zu bewegen. In den letzten Jahren melden sich jedoch verstärkt kritische Stimmen.

So fand Anne Flothow vom Hamburger Institut für Gesundheitsmanagement unter 17 klinischen Studien immerhin 6, die keinen Wirksamkeitsbeleg für die Rückenschule liefern konnten, zwei erbrachten keine eindeutigen Ergebnisse. Die deutsche Arzneimittelkommission bemängelt zudem, dass viele der vorliegenden Arbeiten methodische Mängel aufwiesen. Der Sachverständigenrat des Gesundheitsministeriums rät sogar den Krankenkassen davon ab, „primärpräventive Rückenprogramme“ für gesunde Menschen anzubieten.

Bleibt die Frage, warum die Rückenschule in wissenschaftlichen Gutachten eher mäßig abschneidet. Ulrich Kuhnt vom Bundesverband der deutschen Rückenschulen kritisiert, dass der Sachverständigenrat sich auf internationale Erhebungen bezogen hätte, „die nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar“ wären. Zudem sei gerade der Krankheitsverlauf von Rückenschmerzen, die in 90 Prozent der Fälle auch ohne Behandlung verschwänden, außerordentlich schwierig, so dass es hier jede Behandlungsmethode schwer hätte, ihre Wirksamkeit nachzuweisen. Wobei sich da natürlich wiederum die Frage erhebt, ob in Anbetracht solcher Spontanheilungsraten Rückenschmerzen überhaupt therapiert werden sollten.

Der Schweizer Rheumatologe Peter Schlapbach sieht in der gängigen Rückenschulpraxis die Gefahr, dass sie bei ihren Teilnehmern ein neurotisches Bewegungsverhalten hervorruft. Wenn jemand zum Aufheben eines Bleistifts jedes Mal umständlich in die Hocke geht, anstatt sich bequem herunterzubeugen, sei er, so Schlapbach, „schon beinahe zwanghaft auf seinen Rücken fixiert“. Das kann letzten Endes Rückenbeschwerden auslösen oder verstärken: Denn wer permanent an einen bestimmten Körperteil denkt, wird dort eher Schmerzen registrieren als andere Menschen.

Auch der Bremer Rückenschullehrer Andreas Werner sieht im Einpauken von angeblich rückenfreundlichen Bewegungen das Risiko, dass man seinem Körper keine natürlichen Bewegungen mehr zutraut, „und dann läuft man schnell herum, als wenn einem ein Stock ins Kreuz verpflanzt wurde“ – mit der möglichen Folge von schmerzhaften Muskelverspannungen.

Dabei gebe es, wie Werner betont, keinen Grund, einem gesunden Menschen zu verbieten, einen Glückspfennig mit rundem Rücken vom Boden aufzuheben, „denn die Wirbelsäule wurde ja von Natur aus für solche Beugebewegungen konstruiert“. Er fordert daher eine undogmatischere Vorgehensweise im Rückentraining und bekundet damit eine Ansicht, die mittlerweile auch vom Bundesverband der Rückenschulen geteilt wird.

Zu einer undogmatischen Rückenschule gehört, dass gesunde Menschen ihren Alltag nicht mehr permanent auf angeblich rückenfreundliche oder rückenfeindliche Aktionen abklopfen. Werner empfiehlt, auch die Scheu vor Schnellkraftsportarten abzulegen, denn er selbst kennt übergewichtige Badmintonspieler, „die verletzungsfrei einen Preis nach dem anderen abräumen“. Ob Bewegung gesund ist oder nicht, hänge eben auch davon ab, wie viel Spaß sie macht. „Mir persönlich ist es lieber“, so Werner, „wenn jemand voller Vergnügen hinter dem Squashball herläuft, als wenn er sich eine Stunde lang unmotiviert durch meine Rückengymnastik quält.“ JÖRG ZITTLAU