Abgeschoben ins Heim

Rund 900.000 Menschen leben in Deutschland derzeit in Pflege- oder Behindertenheimen. Ein großer Teil davon habe darin nichts zu suchen, meint die Deutsche Altenhilfe. Ein radikales Umdenken fordert auch der Psychiatrieprofessor Klaus Dörner

Die Kampagne „Heime auf dem Prüfstand“ sei nicht mehr zum Schweigen zu bringen

VON WERNER LOOSEN

Weg mit den Heimen, egal ob für Behinderte oder für pflegebedürftige oder demente Alte! Das geht nicht, weil es keine Alternative gibt? Professor Klaus Dörner, Jahrgang 1933 und früherer Leiter des Landeskrankenhauses (LKH) in Gütersloh, ist anderer Ansicht.

Als er 1980 nach Gütersloh kam, traf er auf ein Haus mit 435 Bewohnern – Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen unterschiedlicher Art. Bald schon entstand die Vermutung: „10 bis 20 Prozent von ihnen könnten wir entlassen, die gehören hier nicht hin, die können in einer eigenen Wohnung leben.“

Dass anfangs viele Fehler gemacht wurden in diesem Bemühen, „erkannten wir schnell infolge der Rückmeldungen dieser Langzeitpatienten“, sagt Dörner. Die sagten beispielsweise, in mehr als fünf Jahren Aufenthalt im LKH sei doch wohl bewiesen, dass sie ernstlich krank seien; andere erklärten, was sollten sie denn draußen, sie fühlten sich doch wohl hier: „Wir wurden darauf gestoßen, dass wir offenbar eine unsittliche Frage gestellt hatten“, schmunzelt Dörner und zieht heftig an seiner Pfeife. Ja, es gab Widerstand seitens der Betroffenen.

Aber auch in der kleinen Gruppe der Ärzte und Betreuer, die das Ziel Entlassung verfolgten, gab es Widersprüche: Wenn wir nur diejenigen entlassen, die uns dafür geeignet erscheinen, bleibt ein harter Kern – schaffen wir damit nicht die alte Anstalt neu? Daraus ergab sich die bis heute nicht restlos geklärte Frage, ob es nicht für jede Einrichtung nötig ist, stets neue Klienten zu schaffen, um das Heim und seine Ordnung aufrechtzuerhalten?

„Verstoßen wir aber nicht gegen die gebotene Aufklärungspflicht, wenn wir die Betroffenen nicht darauf aufmerksam machen, dass sie eigentlich entlassen gehörten?“, fragt Klaus Dörner und bestätigt, dass mehr als 40 Prozent der Heimleiter dies unter vier Augen eingestehen. Niedrig gerechnet heißt das, dass rund ein Drittel der gegenwärtig fast 900.000 in Heimen lebenden Menschen in Deutschland entlassen werden könnten. Untersuchungen in Schweden haben dies längst bestätigt: Dort gibt es inzwischen ein Gesetz, das es verbietet, Menschen mit Behinderungen in Heimen unterzubringen.

In Gütersloh, wo bald mit den Füßen abgestimmt und die Ansichten der Ärzte bestätigt wurden, ging man nun den anderen Weg und entließ die Schwerstbetroffenen zuerst: „Wir haben unser Vorgehen so radikalisiert“, sagt Dörner, „dass wir zu dem Schluss kamen: Alle oder keiner!“ Jeder Heimbewohner habe dasselbe Recht, entlassen zu werden: „So hatten wir wenigstens eine Norm, die uns helfen sollte, damit nicht die Schwächsten als letzter Rest übrig blieben.“ Niemand habe daran gedacht, dass er gleichsam durch Sachzwänge dazu getrieben werde, weil es nämlich aus moralischen Gründen keine Alternative gab: „Hätten wir anders gehandelt, müsste das ein Menschenrechtsskandal genannt werden“, erklärt Klaus Dörner.

Zum Verstoß gegen die Aufklärungspflicht wären die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten und die Verletzung der Menschenwürde gekommen – „dies gilt heute noch für mehrere hunderttausend Menschen in dieser Republik!“

Nun gut, in Gütersloh wurden die 435 Menschen entlassen und von dem inzwischen geschaffenen ambulanten Netz aufgefangen. „Wir hatten erkannt, dass es neben dem Recht auf Freiheit auch eins auf Fremdbestimmung gibt – diese Menschen wollten etwas darstellen für andere, sie ließen sich relativ problemlos integrieren.“

Arbeitsmöglichkeiten wurden geschaffen, die Werkstätten für Behinderte aufgesucht, Integrationsfirmen eingerichtet, Zuverdienstfirmen für diejenigen, die zunächst keiner regelmäßigen Tätigkeit nachgehen konnten. Schnell ergaben sich Kontakte zu den so genannten normalen Gütersloher Bürgern, die die Entlassenen in ihrem Wohnumfeld begegneten.

Was aber ist mit den hunderttausenden dementen Alten, die unsere Heime bevölkern? Klaus Dörner lehnt sich zurück und berichtet von einer Untersuchung des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, das alle Pflegeheime in Schleswig-Holstein untersucht und festgestellt habe, mindestens 30 Prozent der Insassen hätten darin nichts zu suchen. Das muss man nicht kommentieren. Würden alle diese Menschen entlassen, könnte man, so die Vorstellung Dörners, Hausgemeinschaften bilden, in denen maximal sechs Alte wohnen sollten, „sonst verstößt das wieder gegen die Würde“; wenig Personal sei für die Betreuung nötig, die Kosten lägen keinesfalls höher als in einem durchschnittlichen Heim.

Zu diesem Thema schreibt Klaus Dörner in seinem Buch „Die Gesundheitsfalle“, die Alten und Altersverwirrten hätten sich dank des medizinischen Fortschritts zwar erst im 20. Jahrhundert vervielfacht, „manche sagen epidemisch inflationiert, was uns emotional und finanziell überfordere“. Im genannten Zusammenhang sei es aber wichtiger, dass man noch um 1900 aus dem Krankenhaus zum Sterben nach Hause gegangen sei, während man heute in der Regel im Krankenhaus oder im Heim sterbe. „Da man zudem in jetzigen Zeiten nicht mehr in jedem Lebensalter gleich wahrscheinlich, sondern fast nur noch im Alter stirbt, gilt auch hier: Sterben und Tod sind institutionell unsichtbar geworden, gehören nicht mehr zur als normal und gesund erfahrenen Lebenswelt.“ Also ab ins Heim.

Aber mit Heimen wird doch jede Menge Geld verdient. Richtig, sagt Klaus Dörner und streicht sich über das weißgraue Haar; schon jetzt lebten in Deutschland knapp 900.000 Menschen in Heimen. Bisher sei man nur in Bayern so ehrlich, sich einzugestehen, dass der Staat in wenigen Jahren irreparabel pleite sei, wenn es so weitergehe und wenn man weiterhin erfolglos versuche, immer mehr Steuern zu erheben, um damit die wachsenden Sozialausgaben bezahlen zu können. „Wenn ich gezielt nachfrage, ergeben sich zwei Möglichkeiten: mehr Geld geben (was nicht geht); selbst helfen.“ Wäre eine Landes- oder gar die Bundesregierung so ehrlich, dies offen zu legen, „würden mehr als 90 Prozent der Bürger sagen – ist doch klar, wir machen mit!“, behauptet der engagierte Arzt, der von Vortrag zu Vortrag eilt, um für die Idee einer Heim-Enquete zu werben, wie sie an der Universität Bielefeld entwickelt wurde. Sicher hätten inzwischen die Heimlobbyisten längst ihre Pfähle eingeschlagen, um genau dies zu verhindern – „das Heimwesen lebt von der Heimlichkeit!“–, doch die Kampagne „Heime auf dem Prüfstand“ sei nicht mehr zum Schweigen zu bringen: „Wir haben vermittelt, dass es nicht über die Geld-, sondern dass es über die Menschenrechtsschiene geht.“

Dörners Vision: Die Heim-Enquete kommt zum gewünschten Ergebnis, der Bundestag wendet sich an die Bevölkerung und sagt: Jeder Behinderte, jeder alte Mensch in einer Straße wird in eine Hausgemeinschaft aufgenommen. Es gebe dann drei Optionen: Profivereine von Arbeiterwohlfahrt oder Diakonie kümmern sich um die Versorgung; die Menschen in einer Straße gründen Trägervereine; die Menschen verpflichten sich, die Pflegebedürftigen in der Gemeinschaft selbst in deren eigener Wohnung zu betreuen, bis zum Tod. „Ich bin mir sicher, dass der intellektuelle Widerstand dagegen in der Praxis nicht groß wäre“, meint Dörner, das knüpfe an die europäische Tradition der Nachbarschaftshilfe an. Und: „Wir wären damit auf dem Weg in die in Sonntagsreden oft beschworene Zivilgesellschaft!“