Ein Mikrochip im Auge

Mit Funkkamera und elektronisch bestückter Netzhaut-Folie wollen Forscher Blinde wieder sehend machen. Gleich zwei verschiedene Systeme sind in den letzten Jahren entwickelt worden. Erste Versuche am Menschen sind in Planung

von CLAUDIA BORCHARDT-TUCH

„Wir hoffen, dass es zügig weitergeht“, erklärt Helma Gussek, Forschungsreferentin des Selbsthilfevereins „Pro Retina“. Gussek denkt dabei an die Entwicklung einer Netzhautprothese, die Millionen von Blinden zumindest einen Teil ihres Sehvermögens wiedergeben könnte.

Retinitis pigmentosa und die Makulardegeneration sind relativ häufig vorkommenden Augenerkrankungen, bei denen die Sehzellen der Netzhaut zerstört werden. Seit acht Jahren schon bemühen sich Wissenschaftler in Deutschland, eine elektronische Netzhautprothese zu entwickeln, die die Funktionen der ausgefallenen Netzhautzellen übernehmen soll. Zurzeit gibt es 14 Arbeitsgruppen an Hochschulen und mikroelektronischen Instituten, die sich zum Forschungsverbund „Retina-Implantat“ zusammengeschlossen haben. Die Wissenschaftler gehen mit zwei unterschiedlichen Ansätzen ins Rennen.

Die Gruppe um Rolf Eckmiller, Universität Bonn, geht epiretinal vor und befestigt die Implantate an der Netzhautoberfläche. Das Sehsystem soll nicht nur die Funktionen ausgefallener Fotorezeptoren übernehmen, sondern auch die Arbeit der Nervenzellen in der Netzhaut gleich mit erledigen.

Eine winzige Videokamera nimmt die Bilder auf. Äußerlich nicht sichtbar, kann die Minikamera in einen Brillenrahmen oder in eine künstliche Linse eingesetzt werden. Ein Computer wandelt die Bildsignale in Impulse für die Nervenzellen um und sendet seine Ergebnisse an eine auf der Netzhaut befestigte Folie. Diese stimuliert über winzige Elektroden Zellen des Sehnerven. Die neuen Elektroden sind mit Iridium beschichtet, das die Elektroden vor einer Zerstörung bewahrt und die Stromstöße an die Nervenzellen schickt.

Erste Implantationen in der Planung

Die Netzhautfolie muss felsenfest verankert sein. Denn ansonsten würden die Elektroden immer wieder andere Nervenzellen stimulieren, und es entstünde bei der natürlichen Bildverarbeitung im Gehirn ein heilloses Chaos. Um dies zu verhindern, haben sich die Forscher etwas Besonderes einfallen lassen: In der Folienoberfläche befinden sich winzige Löcher, durch die Netzhautzellen hindurchwachsen. So bildet sich eine feste Verbindung zwischen Gewebe und Implantat. Die Fixierung mit Gewebenägeln wird damit überflüssig. Die Mikrostrukturierung hat sich bereits bewährt: Das Gewebe im Auge von Kaninchen verband sich innerhalb kurzer Zeit mit dem Implantat.

In Versuchen an Kaninchen, Katzen, Minipigs und Affen konnte das Epi-Ret-Team eine erfolgreiche Stimulation nachweisen. Die Wissenschaftler ließen Licht vor den Augen der Tiere aufblitzen und untersuchten, wie ihre Hirnströme darauf reagierten. Dafür wurden den Tieren Elektroden unter der Schädeldecke eingesetzt, die über Kabel an einen Computer angeschlossen werden konnten. Er zeichnete die Hirnströme auf, und es stellte sich heraus, dass bei Stimulation eines bestimmten Punktes auf der Netzhaut auch der dazugehörige Bereich im Gehirn angesprochen wurde.

„Es ist durchaus möglich, dass wir noch innerhalb dieses Jahres eine erste Implantation beim Menschen durchführen“, erklärt Horst Richter vom Institut für Pathologie an der RWTH Aachen. Der Wissenschaftler dämpft jedoch überhöhte Erwartungen: „An eine breite klinische Anwendung ist jedoch erst in frühestens fünf Jahren zu denken.“

Auch Eberhart Zrenner, der das Subret-Projekt leitet, geht davon aus, dass sein Team in Kürze Netzhautprothesen beim Menschen einsetzen wird. „Mittlerweile planen wir Studien mit unseren künstlichen Netzhäuten bei Menschen mit fortgeschrittener Retinitis pigmentosa“, meint der Direktor der Tübinger Augenklinik „Denn bei diesen Patienten, deren Fotorezeptoren bereits zerstört sind, kann man die Risiken einer Operation in Kauf nehmen.“

Im Gegensatz zum Eckmiller-Team implantiert die Gruppe um Zrenner einen lichtempfindlichen hauchdünnen „Chip“ in die Netzhaut. Fällt Licht auf seine dicht nebeneinander stehenden Fotodioden, sollen Elektroden die Nervenzellen in direkter Nachbarschaft reizen, und man geht davon aus, dass das Gehirn das schwierige Puzzle schaffen wird: aus den eintreffenden Nervenimpulsen ein brauchbares Bild zusammenzusetzen.

„Inzwischen vertragen unsere lebenden Schweine die Mikrochips einwandfrei – und die Reize der elektrischen Netzhautstimulation kommen im Gehirn auch an“, erklärt Zrenner. Zusammen mit den Teammitgliedern aus Reutlingen, Stuttgart und Regensburg gelang es ihm, zahlreiche Probleme zu lösen.

Inzwischen halten die Implantate auch der schwierigen Umgebung stand. Immer wieder hatte die salzige Flüssigkeit des Auges den Chip angegriffen, der korrodierte. Das Naturwissenschaftliche und Technische Institut (NMI) in Reutlingen entwickelte Elektroden aus Titannitrat und kapselt die Fläche rundherum in einen besonderen Kunststoff ein. Tierversuche zeigten, dass ein solcher Chip der aggressiven Umgebung widersteht.

Energieprobleme konnten gelöst werden

Besonders stolz ist Zrenner darauf, dass das schwierigste Problem gelöst werden konnte: genügend Reizstrom für die Nervenzellen zu produzieren. Im ursprünglichen Chip sollten Solarzellen das einfallende Licht in Nervenimpulse umwandeln. Doch nur bei gleißendem Licht produzierten die Zellen genügend Strom. Daher entwickelte das IMS, das Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung in Stuttgart, den aktiven Chip. Seine Fotodioden brauchen keine nervenstimulierende Energie mehr zu erzeugen. Infrarotstrahlen liefern von außen durch die Pupille ständig genügend Energie, um die Nervenzellen an Ort und Stelle reizen zu können.

Obwohl die Fotodioden des neuen Chips keine Energie mehr liefern müssen, kommt ihnen weiterhin eine wichtige Aufgabe zu: Abhängig vom Licht, das von den sichtbaren Dingen ausgeht, modulieren sie den Strom für die Elektroden. Die Fotodioden unterscheiden zwanzig verschiedene Grautöne und lassen entsprechend mehr oder weniger Strom an die Elektroden durch. Das bedeutet: Je größer die Lichtstärke, desto stärker wird der Nerv gereizt. „Und der wichtigste Punkt ist, dass sich der Chip ständig der Gesamthelligkeit anpasst“, sagt Zrenner. „Er verstellt seine Empfindlichkeit und liefert der Nervenzelle immer genau den Strom, den sie braucht.“

Auf dem neuen Chip sitzen auf einem Scheibchen von nur drei Millimetern Durchmesser 1.600 Fotodioden, 1.600 Elektroden und 1.600 Verstärkerschaltkreise. Noch ist nicht genau bekannt, wie der Patient die Welt damit sehen wird. Eines ist jedoch gewiss: Er wird sie anders wahrnehmen als ein Gesunder.

Ein Blick auf eine grob gerasterte Welt

„Das Bild, das der Patient von der Welt erhält, besteht wahrscheinlich aus lauter verschieden grauen Papierschnitzeln. Sie haben die Größe eines Daumennagels, den wir in 50 cm Entfernung von uns ausgestreckt halten“, sagt Zrenner. Aber der Patient wird die Dinge erkennen können, davon ist der Forscher überzeugt. „Wir sind sehr gespannt darauf zu erfahren, wie man die Welt mit 1.600 Pixeln sieht. Wahrscheinlich wird das gar nicht so schlecht sein.“

Auch das Gesichtsfeld – der Teil der Welt, der mit einem unbewegten Auge gesehen wird – ist etwas eingeschränkt: Das Implantat ermöglicht 12 Grad – ein gesundes Auge etwa 130 Grad. „Aber wenn man sehr schnell über die Autobahn saust, liegt das Gesichtsfeld auch nur bei 12 bis 15 Grad, weil alles außen so rasch vorbeiflitzt, dass man es nicht erkennen kann“, sagt Zrenner. Beobachtungen an Patienten mit 12 Grad großem Gesichtsfeld haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass das Gesichtsfeld des Implantats eine sehr gute Orientierung möglich machen wird.

Und risikoärmere Methoden – wie etwa die Verpflanzung von Pigmentepithel, das Fotorezeptoren vor einem Untergang bewahrt, weil es sie ernährt, können nur im Anfangsstadium einer Makuladegeneration eingesetzt werden.

Entscheidend für den weiteren Fortgang sind die zur Verfügung gestellten Geldmittel. Seit 1995 wird die Entwicklung eines Netzhaut-Implantates vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert – von 1995 bis 2003 mit einem Einsatz von über 30 Millionen DM. Auch die Industrie hat ihre Bereitschaft zur Mitarbeit bekundet. Positiv wird bewertet, dass manches Forschungsergebnis von „Retina-Implantat“ sich auch anderweitig nutzen lässt – wie zum Beispiel bei der Entwicklung einer Linse, die den Augeninnendruck messen soll. In der noch in diesem Jahr beginnenden dritten Phase soll sich die Industrie zur Hälfte an der Förderung des Projektes beteiligen. „Zurzeit befindet sich das Projekt noch in der Antragsphase, und das BMBF hat noch keine Entscheidung über die Fortführung getroffen. Dies ist bis Ende des Monats zu erwarten.“