Robert Misik über das Defizit der Vereinten Nationen

Die Macht der Megametropolen

Die Organisation der Vereinten Nationen beruht auf anachronistischen politischen Einheiten. Sie verkennt, dass die untereinander effektiv vernetzten Megametropolen mit ihren Hinterland kaum noch etwas verbindet. Das Beharren auf den alten Strukturen entfernt die UN von der Lebenswirklichkeit der Menschen

Reifere Leserinnen und Leser dieser Zeitung werden sich noch daran erinnern: Es gab eine Zeit, da war der kritische Impuls, der am Ursprung dieses Blattes stand, so übermächtig, dass ein gewisser nörgelnder, beckmesserischer Sound sich durch die Seiten und Spalten zog. Man suchte, selbst in eher erfreulichen Prozessen, ein Haar in der Suppe. Dieser Gestus hat sich erst allmählich abgeschliffen. So feierte der greise Ehrenherausgeber Christian Semler an dieser Stelle in der Vorwoche die „recht glückliche Karriere“, die die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren machten, und pries insbesondere die UN-Generalsekretärin Xiane Heller, die mit visionärer Entschiedenheit und praktischer Durchsetzungskraft den Umbau der Weltorganisation zu einer Art Weltregierung erst ermöglicht hat.

Nun ist das nicht von der Hand zu weisen. Dass der UN-Sicherheitsrat mit der Generalsekretärin an der Spitze im Kontext eines Mehrebenensystems gouvernementaler Globalsteuerung eine derart entscheidende Rolle spielen würde, war vor wenigen Jahren nicht absehbar. Dass es Heller gelingt, die widerstrebenden Interessen der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates – USA, EU, Russland, Afrika, Indien und China – geschickt auszutarieren, zeigt nicht nur, dass die Dame über ausgeprägtes Geschick verfügt, sondern dass unter den Eliten der postnationalen Netzwerkgesellschaften, vor allem der USA, der EU, Indiens und Chinas, ein gehöriges Maß an Interessenidentität besteht.

Das Ergebnis ist gewiss beeindruckend: Auf der Ebene des Globalmanagements langfristiger Steuerungsvorhaben ist die UN effektiv – das zeigt sich etwa an der prompten und strikt kontrollierten Umsetzung des Abkommens über die ausschließlich nachhaltige Nutzung der Welt-Energieressourcen. Auf all jenen Politikfeldern, die als planmäßige Verwaltung technischer Probleme bezeichnet werden können, haben die UN eine hohe Lösungskompetenz erlangt. Es mag im transnationalen Gefüge bisweilen knirschen, weil die US-amerikanische politische Kultur noch geprägt ist von der kollektiven Erinnerung an die Zeit amerikanischer Welthegemonie, letztendlich werden die USA aber die Multipolarität mit der EU als tendenziell dynamischere Macht akzeptieren und damit auch die Beschränkung ihres Verantwortungsbereichs auf den amerikanischen Kontinent.

Es kann aber nicht schaden, den kritischen Blick wach zu halten – zu deutlich sind die Defizite der UN, als dass reine Affirmation das Gebot der Stunde wäre. Die regelmäßigen Aufstände in den ländlichen Gebieten, den schwarzen Löchern der Weltgesellschaft, aber auch in den Wucherungen am Rand der Megametropolen kann die UN-Generalsekretärin nicht einfach mit einer Handbewegung abtun. Natürlich hat sie formal Recht, dass die planmäßige Entwicklung und die Befriedung ihrer Verantwortungszonen die Aufgabe der sechs regionalen Machtknoten ist, aber diese formale Argumentation gibt nur vor, dass das Problem durch eine Konstellation gelöst werden könnte, die in Wahrheit der Ursprung des Problems ist. Die Weltgesellschaft ist längst weder regional noch national strukturiert. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass Megacitys wie Jarkata, New York, Schanghai, London, Moskau, Karatschi, Mumbai oder die metropolitanen Netze wie Hongkong-Shenzhen-Guangzhou sowie die deutsche Metropole Leipzig-Halle-Jena sich weniger auf ihre „Weltregionen“ orientieren als auf die Macht- und Wirtschaftsknoten in anderen Weltregionen, mit denen sie längst mehr verbindet als mit ihrem Hinterland, für das diese zentralen Kreuzungspunkte des globalen Netzes allenfalls Magneten sind.

Begriffe wie „Land“, „Nation“, „Region“ taugen nicht mehr. Das zeigt ein bloßer Blick auf die Statistik. In der gesamten Menschheitsgeschichte überwog die Landbevölkerung die Stadtbevölkerung. Vor etwa 25 Jahren noch war das Verhältnis der globalen Land- und Stadtbevölkerung ausgeglichen. Erstmals leben heute mehr Menschen in Städten als außerhalb. Heute sind die Regionen im Vergleich mit den Ballungsräumen regelrecht entvölkert – von den rund 10 Milliarden Menschen leben fast 7 Milliarden in einer der mehr als 600 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern, ein erheblicher Anteil in den für unsere Zeit so typischen Megacitys mit 25 bis 50 Millionen Einwohnern. Diese Städte sind wirkliche Welt-Städte: Sie orientieren sich allenfalls insofern auf ihr Hinterland, als dies ihr Reservoir an Zuwanderern stellt – und auch das stimmt nur sehr bedingt, wie die vielen hundert Millionen Wanderarbeiter zeigen, die von Ballungsgebiet zu Ballungsgebiet ziehen. Viel effektiver verbunden sind die Städte, diese Zentren der Dienstleistungen, der virtuellen und der realen Produktion, mit anderen Zentren jenseits ihres Großraumes.

Begriffe wie „Land“, „Nation“, „Region“ taugen nicht mehr. Das zeigt ein bloßer Blick auf die Statistik

Dies wirft ein politisches Problem auf, das den Verantwortlichen an der Spitze der UN anscheinend nicht bewusst ist. Die Weltstädte vernetzen sich jenseits der Nationen; und übrigens tun das auch die prosperierenden Provinzen, denen es gelang, ländlichen Charme mit hoher Effizienz, und sei es auch als Rückzugsgebiet für die Eliten, zu verbinden – wie etwa die Toskana, das Waldviertel in Österreich, das Mecklenburger Küstengebiet, das Umland Odessas in der Ukraine –, die ihrerseits längst ein „Netzwerk der Provinzen“ etabliert haben. All dies geht an den Organisationseinheiten, in denen politische Vergesellschaftung bisher stattfand, vorbei. Die nationalen Regierungen sind Relikte aus vergangenen Tagen. Das Weltsystem ist von unten herauf falsch, weil anachronistisch konstruiert. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Lebenswirklichkeit der Bürger und den politischen Repräsentationsformen unterspült nicht nur die Demokratie, sondern verursacht auch Effizienzverluste.

Die Interessen der Megametropolen und damit auch ihrer Bewohner werden systematisch missachtet

Die politische Grundeinheit ist immer noch der Fake des Nationalstaates. Die darüber gelagerten Ebenen des globalen Mehrebenensystems ruhen damit aber auch auf einem Fake. Heute zeigt sich erst, wohin das Prinzip der Subsidiarität geführt hat: dazu, dass Dinge, die getan werden müssten, einfach nicht getan werden. Weil die Entwicklung jenseits der Megacitys nicht in den Verantwortungsbereich der UN fällt, sich aber gleichzeitig die regionalen Knotenpunkte schon lange nicht mehr dafür verantwortlich fühlen. Dies führt nicht nur aufgrund des endemischen Elends in diesen schwarzen Löchern zu regelmäßigen Eruptionen, sondern auch weil keine funktionstüchtige politische Ebene mehr existiert, von der sich die Einwohner der Krisenzonen repräsentiert sehen. Demokratische Repräsentation im Nationalstaat funktioniert längst nicht mehr, die UN wiederum sind bisher nicht in der Lage, darüber nachzudenken, wie sie die Repräsentation anders organisieren könnten – oder, umgekehrt formuliert, ob es andere Formen geben könnte, sich zu legitimieren, als über das Mehrebenensystem Nationalstaat-Weltregion-Sicherheitsrat; mit einem Wort: wie Bürger, die sich von keiner konstituierenden Einheit des Weltsystems mehr repräsentiert sehen, von den Vereinten Nationen direkt repräsentiert werden können.

Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil die Regierungen den Sicherheitsrat als Ort missbrauchen, an dem sie ihren aussichtslosen Kampf um den eigenen Machterhalt führen. Die Interessen der Megametropolen werden von ihnen dabei systematisch missachtet – und damit auch die ihrer Bewohner. Dies ist nicht nur demokratietheoreretisch fragwürdig, sondern verursacht ganz konkret Reibungsverluste bei der Alltagsbewältigung. Xiane Heller hat sich gewiss verdient gemacht um die Neustrukturierung des globalen Systems. Aber sie hat diese brennenden Fragen sträflich vernachlässigt. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass es dieses Problem sein wird, das uns in den kommenden Jahren beschäftigen wird.

Hinweis: Robert Misik, 63, ist Herausgeber der European Review of Books und lebt in Berlin, Wien und im österreichischen Waldviertel. Er schreibt seit 37 Jahren regelmäßig für die taz.