Georg Blume über den Präsidentschaftswahlkampf

Kommunist Li Ning stellt sich auf die Zehenspitzen

Drei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen in China sieht alles nach einem Comeback der Kommunisten aus. KP-Chef Li Ning profitiert von seinen Olympiasiegen, einer geölten Propaganda und der Enttäuschung auf dem Land

Mao Tse-tung hätte gewunken. Li Ning aber hebt, um den Applaus der Massen zu entfachen, die Arme über den Kopf, bis die offenen Handflächen aufeinander klatschen. Dabei ruht der Blick des Präsidentschaftskandidaten der Kommunistischen Partei Chinas auf seinen Zehenspitzen, die langsam die Hacken nach oben drücken. In diesem Moment explodieren die hunderttausend KP-Anhänger im Pekinger Olympiapark. Denn Li Ning macht nach, was er bei den Olympischen Spielen von 1984 in Los Angeles, als er drei Goldmedaillen holte, vor jeder Übung tat. Heute aber soll die Erinnerung an die Erfolge des jugendlichen Turnhelden den Kommunisten zu ihrer ersten demokratischen Machtübernahme verhelfen.

Li Ning kann es gelingen. Das beweisen nicht nur die Umfragen. Wenn der 69-Jährige in den Turnschuhen des nach ihm benannten Weltkonzerns an einer Strickleiter auf die von zwei Helikoptern getragene Olympiaparkbühne klettert und anschließend kindlich grinsend über die Menge schwebt, wirkt er wie einer, der die KP von allen Stigmen der Vergangenheit erlöst hat. Li könnte theoretisch auch mit jeder anderen Partei in den Wahlkampf ziehen. Als Chef des Konzerns, der die Konkurrenten Adidas und Nike in Nischenmärkte verdrängte, entbehrt er des üblichen KP-Stallgeruchs. Nur seine Rede klingt altmodischer als alle KP-Parolen der vergangenen Jahre: „China braucht wieder eine Vision“, verkündet der fliegende KP-Chef. „So wie das Land unter der Führung unserer Partei 1949 ein erstes Mal aufgestanden war, so muss es heute, 80 Jahre später, ein zweites Mal aufstehen.“ Als repräsentierte er noch immer dieselbe gleiche Partei, die China von 1949 bis 2019 regierte.

Der Einzelgänger

Hier aber liegt die Faszination des Kandidaten Li: Wie keiner seiner von der demokratischen Wende des Jahres 2019 geprägten Vorgänger und wie es sein Hauptkonkurrent, der amtierende Präsident Charles Zhang Chaoyang, erst recht nicht vermag, kann Li an das Wirtschaftswunder zu Beginn des Jahrhunderts und kommunistische Erfolgslegenden anknüpfen, ohne auch nur in den Verdacht zu geraten, die alten Zeiten der KP-Diktatur wieder heraufbeschwören zu wollen. Ob als Olympiaturner oder Firmengründer der ersten Stunde: Li war immer Einzelgänger. Das erlaubt ihm heute, sein Schicksal mit dem seiner Partei zu vergleichen: „Erst haben mich alle gefeiert, dann wollte niemand mehr etwas von mir wissen“, erinnert der Kandidat in jeder Wahlkampfrede an seinen sportlichen Niedergang nach der verpatzten Olympiade von Seoul 1988. Genauso sei es der KP nach ihrer historischen Schlappe bei den ersten freien Wahlen 2019 gegangen. Doch wie er selbst nach Seoul nie eingesteckt und seine Firma aufgebaut habe, so habe auch die Partei nie aufgegeben. „Wir sind wieder regierungsbereit“, feuert Li seine Anhänger an.

Die hören das gerne. Doch gibt an diesem Freitag ein Blick in den Pekinger Olympiapark bessere Auskunft über die Reorganisation der Partei als Lis hochtrabende Worte. Fast nur ältere Leute sind gekommen. Die Mao-Anzüge sind zwar verschwunden, doch immer noch prangt das rote Parteiabzeichen auf der linken Brust. Auch sind die hunderttausend Teilnehmer nicht viel im Vergleich mit den 1,5 Millionen, die am Mittwoch Präsident Zhang auf dem Tiananmenplatz zujubelten – unter ihnen das ganze junge Volk Pekings, vom Fahrradtaxi-Fahrer bis zu den Elitestudenten. Sie alle wollen mit den Kommunisten nichts zu tun haben. Umso erstaunlicher aber ist Lis anhaltender Vorsprung in den Umfragen: Bis zu zehn Prozent liegt er drei Wochen vor der Wahl vor Zhang. Der dritte Kandidat von der Konfuzianischen Partei, die bislang die Opposition im Pekinger Volksparlament führt, erscheint jetzt schon abgeschlagen.

Die Macht der Bauern

Woher dieser Meinungsumschwung kommt, ist kein Geheimnis: Mindestens 100 Millionen Landbewohner haben sich in den letzten Monaten erstmals für eine Wahl registrieren lassen. Noch immer leben von 1,45 Milliarden Chinesen die Hälfte in Dörfern und Kleinstädten. Ihre Wahlbeteiligung lag bei den ersten Präsidentschaftswahl vor zehn Jahren unter zehn Prozent, stieg fünf Jahre später auf zwanzig Prozent und könnte sich in diesem Jahr erneut verdoppeln. Nach den Umfragen wollen bis zu siebzig Prozent der Landbewohner für die KP stimmen.

In Daqing, einem Dorf inmitten von Mandarinbaumplantagen nordwestlich der sichuanischen Provinzhauptstadt Chengdu, findet kein Wahlkampf statt. Zwar ist Bürgermeister Peng Yu Mitglied der Demokratischen Partei (DP) von Präsident Zhang. Doch sitzen im Dorfkomitee ebenso viele Kommunisten wie Anhänger der DP. „Ich gebe keine Wahlempfehlung“, sagt Peng in seiner Amtsstube unter dem Porträtbild Zhangs. „Das würde den Zusammenhalt im Dorf nur stören.“

In Wirklichkeit allerdings ist Peng über Zhang tief verärgert. Der hatte mit seiner Informationskampagne zu Beginn der Zwanzigerjahre, während der jedes Klassenzimmer und jedes Rathausbüro in China einen Computer erhielten, den verarmten Bauern den Anschluss an die Globalisierung versprochen. Doch zugleich strich der überzeugte Marktwirtschaftler 2021 alle Subventionen für die Landwirtschaft. Seither haben sich in China landwirtschaftliche Großbetriebe entwickelt, der Mandarinenmarkt fiel zudem an Spanier und Australier. Trotz Computer blieben die Bauern arm. „Was nützt uns, wenn wir heute unsere Madarinen im Internet-Shop anbieten können, aber dort Spanier billiger verkaufen“, klagt Peng.

Wie ihm ergeht es in China 400 Millionen Bauernfamilien, die noch unter der letzten Landreform der bereits kriselnden KP-Diktatur zu Besitzern des von ihnen bewirtschafteten Landes wurden. Die Reform erwies sich später als Falle. Die Bauern waren stolz auf den Besitz und glaubten sich während der Jahre der demokratischen Revolte in Sicherheit. Dann aber versäumten sie den wirtschaftlichen Aufschwung – und fühlen sich heute als Verlierer

Doch profitiert Lis Wahlkampf nicht nur vom Ärger der Zurückgebliebenen und der Nostalgie der Alten. Denn Demokratie ist in China heute ein Mediengeschäft. Da aber ist Li der Erste, der Zhang, dem Vater nicht nur der chinesischen Demokratie, sondern auch des chinesischen Internets, Paroli bietet. Zhangs Wahlsiege und seine erfolgreiche Bürgerbewegung vor der demokratischen Wende beruhten auf seiner ökonomischen Macht als erfolgreichster Internetunternehmer Chinas. Noch heute ist das von Zhang schon 1996 gegründete Internetunternehmen sohu.com seine wichtigste Wahlkampfmaschine.

Hohe soziale Standards

Die DP spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. Genauso aber verfährt Li. Kommunist kann er sich nennen, weil er als Sohn eines armen Dorflehrers in Südchina nie seine Herkunft vergaß und in seiner Firma soziale Standards wahrte. Doch aussichtsreicher Bewerber auf das höchste Staatsamt ist Li heute nur, weil die Werbeabteilung seines Konzerns die alte Propagandazentrale der Partei übernahm. In dem alten Gebäude stalinistischer Bauart schuftet heute José Ortega – der Mann, der für den Li-Ning-Konzern vor drei Jahren bei der Fußball-WM in China den Siegeszug das argentinische team medial orchestrierte. „2026 haben wir erreicht, dass alle Chinesen Argentinien-Fans waren“, erklärt Ortega. „Viel leichter ist es, die Chinesen für Li Ning zu begeistern.“