peter unfried über Charts
: Im Namen der Sehnsucht bzw. Oberschenkel

Unkonventionelle Lebensentscheidungen (III): Ildikó von Kürthy lesen

The things you think are precious / I can’t understand.“Steely Dan

Eben hatte ich mal wieder in meinem geliebten „Von deutscher Republik“ gelesen. Man muss sich immer mal wieder die zentralen Aussagen zurück ins Gedächtnis rufen, die später fiktionalisiert im „Zauberberg“ wiederkehren.

Ach, großer Thomas Mann. Glücklich legte ich das Büchlein zurück aufs Tischlein – direkt neben Hitlers Tagebuch. Und da lag eben auch Ildikó von Kürthy.

*

Ein junger Freund hatte es mir hingeknallt. Hatte gesagt: „Willst du mal richtigen Dreck lesen?“ Und davon gehöhnt, wie aggressiv es ihn mache, wenn Literatur versuche, das Niveau von Vorabendserien zu unterbieten. Er habe es „mangels Alternative“ auf dem Klo einer Frauen-WG gelesen („in mehreren Sitzungen“). Nach Ende der Lektüre ging er angeblich nie mehr hin.

Usw. Selbst meine doofe Tochter (4) schüttelte den Kopf und sagte, das sei ja wohl nur etwas „für Frauen ohne Selbstwertgefühl“.

Zusammengefasst kann man sagen: Fast alle Frauen Deutschlands haben Ildikó von Kürthy gelesen – und mehr Männer, als man wahrhaben möchte. Und kaum einer mit messbarem IQ möchte Gutes drüber sagen.

Aber, what the hell: Es war Sommer, vom Platz drängte heiße Luft herauf. Jedenfalls nahm ich das Buch und las es. Und als ein anderer Mann sah ich die Sonne aufgehen. Ich … weiß … jetzt alles über Frauen.

Falls einer nicht alles weiß, es gibt drei von-Kürthy-Bücher: „Freizeichen“, „Herzsprung“, „Mondscheintarif“. Hunderttausendfach verkauft. Das letzte stand eben noch in der Spiegel-Rangliste auf Platz 1.

Worum geht’s? Heterosexuelle, urbane, kinderlose, unfreiwillige Single-Frauen von knapp über 30 heißen Cora oder Annabel und warten nach dem ersten halbwegs glücklich vollzogenen GV auf den Anruf von IHM.

Während sie warten, schauen sie an sich herunter. Dann sehen sie vorn oben schlappe „Sunkist-Tüten“ traurig runterhängen. Richtung Oberschenkel, womit schon die nächste Problemzone benannt ist. Und so werden diese jungen deutschen Frauen von heute ein bisschen depressiv.

Eigentlich ein solider Plot.

Die Literaturkritik war natürlich trotzdem nicht freundlich zu Autorin und Werk, wirkte aber ingesamt hilflos. Na ja, erstens gibt es bekanntlich in unserer Demokratie sowieso keine Elite, die solche Stimmen zum Schweigen bringen könnte. Zweitens kommt die Kritik Werk und Autorin nicht wirklich bei.

Das hat mir ein Germanistikprofessor erklärt. Der hundsnormale, halbgebildete Mensch stellt seine scheinbar banale Sehnsucht in Frage und reagiert skeptisch auf die von Ildikó und Cora und Annabel. Diese Sehnsucht an sich aber ist schwer kritisierbar. Es macht Ildikó und Cora und Annabel stark, dass sie sie nicht in Frage stellen.

Übrigens stellen die Frauen auch sonst nichts in Frage.

Außer ihrem Arsch.

Trotz dieses Standortnachteils glauben sie aber fest an das bereits im Grundgesetz festgelegte Glücksversprechen im demokratischen Kapitalismus, das ist ein Mann mit akzeptablem Body und Doktortitel.

1968 (das Geburtsjahr der Autorin) haben sie überwunden bzw. weiterentwickelt. Mag so ein Glaube, zudem in diesen scheinbar schlechten Zeiten, naiv erscheinen, so ist er doch beeindruckend in seiner Absolutheit.

Es ist daher nur konsequent, dass am Ende alle belohnt werden. Die Romanheldinnen nicht nur mit neuem Leben, sondern auch noch mit neuer Frisur. Die Leserinnen, weil sie mit einem utopischen Moment in ihr eigenes Arschproblemleben zurückgeschickt werden. Die männlichen Leser, weil sie endlich verstehen. Und die Autorin?

Es ist seltsam, aber irgendetwas zwingt einen beim Lesen immer wieder nach vorn zu blättern zu ihrem Foto. Das passiert bei Thomas Mann nie. Was es genau bedeutet, ist schwer zu sagen. Jedenfalls: Je länger ich las, je mehr ich verstand, desto stärker wurde bei ihrem lieben Anblick der Gedanke an Hölderlin und sein Postulat: „Heilige Gefäße sind die Dichter“.

Die Gedanken und Gefühle einer Frau. Eine schlichte, tiefe Sehnsucht. Traum und Wirklichkeit vereinen sich am Ende wie Geliebte und Geliebter. Wer hier eine Hommage an die Romantiker vermutet, muss freilich konzedieren, dass das Novalis’sche Moment der Todessehnsucht außen vor bleibt. Die Sehnsucht von Cora und Annabel ist nicht morbid, sie ist lebensbejahend – und damit eben nicht unheilbar. Und genau deshalb ist die schöne Rivalin Ute Koszlowski am Ende auch gar keine Rivalin, sondern lesbisch.

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In einem Interview sagte Ildikó von Kürthy: „Ja, ich interessiere mich für meine Oberschenkel.“ Im Namen der Sehnsucht: Ja, wir interessieren uns auch für Ihre Oberschenkel. Sehr. Erzählen Sie uns mehr von ihnen. Bitte.

FRAGEN? kolumne@taz.de