Förmlich implodiert

Bayern München verliert bei Borussia Dortmund mit 0:2 und sucht die Schuld dafür vornehmlich bei Schiri Merk. Doch der kann am wenigsten dafür, dass es nun nur noch um Platz zwei geht

AUS DORTMUNDULRICH HESSE-LICHTENBERGER

Ein Schrei, ein Sturz, ein Pfiff. Zugegeben: Das ist nicht die einfallsreichste Art, die entscheidende Szene des Bundesligaspitzenspiels zwischen Borussia Dortmund und Bayern München zu beschreiben. Andererseits waren diese Worte selten so angebracht wie am Samstagnachmittag im Dortmunder Westfalenstadion. Der Pfiff entfuhr der Pfeife von Schiedsrichter Markus Merk in der 53. Spielminute und signalisierte einen Elfmeter für die Gastgeber, den Ewerthon verwandelte – wenn auch erst knapp drei Minuten später. Der Sturz passierte dem jungen Dortmunder Stürmer Salvatore Gambino, genehmerweise im Strafraum der Bayern und in unmittelbarer Nähe eines ausgestreckten gegnerischen Beins. Der Schrei – und nun Achtung! – kam natürlich aus dem Mund des so jäh Gestoppten, aber eben nur aus seinem. Es war nämlich tatsächlich nur „ein“ Schrei. Die 25.000 BVB-Fans auf der Südtribüne, die freien Blick auf das Geschehen hatten, brüllten keineswegs „Elfer!“ oder „Foul!“, wie sie das sonst zehnmal pro Partie tun. Sie kratzten sich am Kopf, blickten in ihr Bier oder bissen in eine Bratwurst, um den peinlichen Moment einer derart dreisten Schwalbe zu überspielen. Erst dann ging ihnen auf, dass Linienrichter Heiner Müller die Sache anders gesehen und das seinem Chef Markus Merk, wie jener sich später ausdrückte, „durch Körpersprache mitgeteilt“ hatte. In diesem Moment verloren die Bayern das Spiel und die deutsche Meisterschaft, außerdem noch die Fassung und die gute Kinderstube. Michael Ballack wurde für seine Proteste verwarnt, Bayerns Co-Trainer Michael Henke des Innenraums verwiesen.

Eine Stunde nach diesen Ereignissen waren die Beteiligten zwar äußerlich gefasster, aber ihre Wortwahl verriet den Ärger, an dem sie immer noch würgten. „Merk hatte doch richtig Schiss“, sagte Henke und verwies auf den umstrittenen Freistoß, mit dem eben jener Schiedsrichter die Bayern 2001 zum Meister gemacht und Schalke auf den zweiten Platz verwiesen hatte. „Er soll doch lieber sagen, dass er keine Spiele von Schalke und Bayern mehr leitet.“ Auch Michael Ballack sah das Problem etwas unterhalb der Körpermitte des Unparteiischen: „Wir können nichts mehr ändern, aber die Schiedsrichter sind gefordert, einen Arsch in der Hose zu haben.“ Hasan Salihamidzic schließlich, dessen Grätsche gegen Gambino den ganzen Tumult ausgelöst hatte, nannte den Pfiff knapp und knackig „absoluten Schwachsinn“.

Aber im Leben, und der Fußball gehört ja noch immer dazu, sind die Dinge selten so eindeutig, wie sie scheinen. Die Fernsehbilder bestätigten nämlich anschließend so gegensätzliche Meinungen wie die von Ottmar Hitzfeld („Man sieht nicht, dass er getroffen wird, es ist eine Schwalbe“) und Merk („Ich wäre der Letzte, der eine Fehlentscheidung nicht zugeben würde, aber die Bilder sprechen für sich“). In der Tat wirkte das, was im Stadion noch so offensichtlich schien, beim Studium der Fernsehbilder plötzlich mehrdeutig.

Weshalb es vielleicht besser ist, sich an die unstrittigen Aspekte des Spiels zu halten, wie etwa die Überlegenheit der Bayern in der ersten Halbzeit: „Da haben wir Ball und Gegner gut laufen lassen“, sagte Hitzfeld, „aber versäumt, in Führung zu gehen.“ Oder die Muskelverletzung des Dortmunders Guy Demel, die Trainer Matthias Sammer in der Pause zu einem kühnen Wechsel zwang. Der junge Stürmer David Odonkor lief nach dem Wechsel als neuer rechter Verteidiger auf, was das Spiel kippen ließ und schließlich zur entscheidenden Szene führte. Auf dem Flügel, auf dem Odonkor und Gambino nun wirbelten, standen ihnen nämlich der gehemmte Zé Roberto entgegen – und eben Salihamidzic, der sich Minute um Minute tiefer in seine Formkrise spielte.

Unstrittig war auch, dass die Bayern nach dem 1:0 förmlich implodierten. „Wir haben die Köpfe hängen lassen und nichts mehr entgegengesetzt“, kritisierte Kahn. So folgte das 2:0 durch Christian Wörns (61.), und als Ballack auch noch die gelb-rote Karte sah (68.), sehnten die Gäste nur noch den nächsten Pfiff herbei, den Schlusspfiff. Der beendete die Titelhoffnungen der Bayern, nicht aber ihre Sorgen. „Wir können nicht nachlassen“, sagte Hitzfeld. „Wir müssen den zweiten Platz sichern.“