Die Knolle in der Scholle

Deutschlands Kartoffelland Nummer eins wird Niedersachsen auf lange Sicht bleiben. Aber vom weltweiten Aufschwung der Knolle profitiert die Region zwischen Gifhorn und Hannover nicht. Und das ausgehende UN-„Jahr der Kartoffel“ hat auch nicht gehalten, was es versprach

VON JENS FISCHER

2008 war das Jahr von Barack Obama, der Olympischen Spiele und natürlich der Finanzkrise. Doch wer nicht gerade ein Demokrat oder Chinese ist und eh kein Geld für Investments hat, wer dazu noch in Niedersachsen lebt, Deutschlands Kartoffelland Nummer eins – der konnte die vergangenen zwölf Monate genüsslich als das feiern, was sie auch waren: das Fest für die Kartoffel, ein hierzulande gar zu oft als Sättigungsbeilage auf den Teller geklatschtes und mit zweifelhaften Soßen vermatschtes Früchtchen.

In Südamerika dient sie bereits seit über 8.000 Jahren als Nahrungsmittel. Die Inka haben die Wildpflanze kultiviert. In Europa wurde das Nachtschattengewächs erst im 16. Jahrhundert eingeführt. Die Spanier gaben der Pflanze, die sie für Trüffel hielten, den Namen Taratoufli, woraus der deutsche Volksmund über ein paar Umwege die Kartoffel machte. Die Iren aßen sie schon als Hauptspeise, als sie an europäischen Höfen noch als Blume galt, beliebt wegen ihres betörenden Duftes und der pastellfarbenen Blüten.

Und heute, Finale 2008, gerät die tolle Knolle in Gefahr? Die Uno hatte 2008 nicht nur zum Internationalen Jahr der Sprachen und sanitären Grundversorgung, sondern ebenso zu dem der Kartoffel und auch gleich noch zum Jahr des Planeten Erde überhaupt erklärt. Solche Aktionen sollen in der Regel auf bedrohte gesellschaftliche Gruppen, aussterbende Tiere oder andere Loser aufmerksam machen. Die Vereinten Nationen wollten aber im Fall der Kartoffel vor allem eine Trendwende bewusst machen und stärken.

In über 150 Ländern wird sie schon angebaut, ist bereits das viertwichtigste Grundnahrungsmittel der Welt – nach Reis, Weizen und Mais. Und während deren Preise rapide steigen, ist der für Kartoffeln stabil. Weltweit werden jedes Jahr mehr als 300 Millionen Tonnen Kartoffeln geerntet, fast doppelt so viel wie vor 20 Jahren. In den Entwicklungsländern stieg der Verzehr von 10 auf 22 Kilogramm pro Kopf und Jahr an. Indien ist nach China und Russland inzwischen der drittgrößte Produzent, noch vor der Ukraine, den USA und Deutschland.

Und was hat Niedersachsen von der globalisierten Knolle? Nichts. Im Welthandel spielen Kartoffeln nur eine untergeordnete Rolle, sie werden überwiegend im Herstellerland verbraucht. Und in Deutschland ging der Kartoffelverbrauch zurück: Um 1900 verspeiste jeder Deutsche durchschnittlich 285 Kilogramm im Jahr, heute sind es nur noch 63 Kilogramm. Niedersachsen ist und bleibt aber Deutschlands größtes Kartoffel-Anbaugebiet. Die etwa 110.000 Hektar Anbaufläche auf den niedersächsischen Höfen macht knapp die Hälfte der gesamten Kartoffeläcker in Deutschland aus. Die „Zitronen des Nordens“, so genannt wegen des hohen Vitamin C-Anteils, kommen vornehmlich aus der Region zwischen Hannover und Gifhorn.

Das Jahr der Kartoffel erwies sich aber nicht als guter Jahrgang: Der niedersächsische Ertrag „von etwa 450 Dezitonnen je Hektar ergab eine durchschnittliche Ernte“, so der Landvolk Niedersachsen Pressedienst (LPD). Die Trockenheit im Frühsommer habe zu einem geringen Knollenansatz geführt. So gab es Schwierigkeiten bei der Vermarktung von Speise- und Pflanzkartoffeln, da vornehmlich übergroße, nicht gerade mundgerechte Kartoffeln produziert wurden. „Die Erlöse der Bauern bewegen sich deshalb mit zwölf Euro je 100 Kilogramm lose Ware ungefähr auf dem recht guten Vorjahresniveau“, so der LPD.

Die Entwicklung hat aber auch ein Gutes: Die Riesenknollen lassen sich bestens als so genannte Verarbeitungskartoffeln zur Herstellung von Pommes frites vermarkten. Pommes-Produzenten wollen besonders lange Knollen. Und die Kartoffel verarbeitende Industrie wird immer mächtiger. Über die Hälfte der deutschen Kartoffelernte kommt als Knabbergebäck, Püreepulver, Tiefkühlgericht, Chips, Fritte und ähnliches in den Handel. Davon profitiert Niedersachsen. Die Stöver-Unternehmensgruppe aus Wildeshausen stellt beispielsweise jeden Tag mehr als 1,5 Millionen Portionen Pommes her.

Und was brachte das Jahr der Kartoffel – außer diversen Aktionen in Kindertagestätten? Wenig! Linda, die festkochend Tiefgelbe, knapp 30 Jahre lang eine der beliebtesten Knollen, ist trotz heftiger Proteste immer noch nicht wieder auf dem Markt: Der Handel mit dieser Sorte blieb grundsätzlich verboten, laut Bundessortenamt in Hannover ist der private Anbau von Linda als Speisekartoffel aber erlaubt.

Das Fernsehen zeigte zum Jahr der Kartoffel mit der Neuverfilmung von Jack Londons „Seewolf“, wie sich die Knolle ins kollektive Bewusstsein eingeprägt hat: Wer mit bloßer Faust die Kartoffelstärke aus ihr herauspresste, war Inbegriff der Männlichkeit. So wie Seewolf Nummer eins, Raimund Harmstorf, hernach durch zahllose Talkshows tingeln musste, um zu erzählen, wie er das gemacht habe (mit einer vorgekochten Kartoffel), erklärte Nachfolger Thomas Kretschmann auf seiner Interviewtour, dass der Stärkebeweis auch mit rohen Kartoffeln funktioniere.

Zum Ende des Kartoffeljahres soll es noch einmal um den schlechten Ruf als Dickmacher gehen: Der entstand, nachdem Kartoffeln massenhaft in heißem Fett gebadet wurden. In Verbindung mit TV-Konsum entsteht das Couch-Potato-Syndrom. Chips enthalten mehr als sechsmal so viele Kalorien wie die pure Knolle. Frei von ungesundem Beiwerk und überflüssigen Geschmacksträgern ist die Kartoffel aber schuldlos an Übergewicht, Gicht und Bluthochdruck. Im Gegenteil: Sie taugt sogar für Schlankheitskuren – gerade jetzt nach den Feiertagen.