Erst nachdenken, dann feiern

AUS BERLIN THOMAS GERLACH

So gegen acht am Abend war es wieder so weit. In der Kleinen Arena im Tempodrom, einem schummrigen Brutkasten ohne Lüftung, beginnt auf der taz-Party die Rettungskampagne. „Was fällt euch ein beim Thema taz?“, fragt einer vom Improvisationstheater Die Gorillas. Gemurmel. „Feminismus“, kommt zaghaft aus dem Rund. – „Ja …“, zögert der „Gorilla“ (in seinem Kopf rattert wohl die Vorstellung, Feminismus aus dem Stegreif zu spielen), „… habt ihr denn nichts Konkretes?“ – Gemurmel. – „Rettungskampagne“, ruft einer. – „Sehr schön!“, seufzt zufrieden der „Gorilla“. „Wer war bei der Rettungskampagne dabei?“ – Schweigen. – „Leute, ist denn keiner von der taz hier?“ Hilfloser Blick.

Endlich kommt aus dem Dunkel ein langer, hagerer Typ. „Aha, ein echter taz-Mitarbeiter!“, begrüßt ihn der „Gorilla“ wie auf der Rassekaninchenschau. „Warst du dabei?“ – „Ja, 92, 96 und 2000.“ Welch ausgewachsenes taz-Exemplar. – „Wie heißt du?“ – „Kalle.“ – „Was machst du?“ – Kalle druckst: „Ich bin Geschäftsführer.“ – Raunen. Das oberste taz-Karnickel! Ein Volltreffer!

„Keine taz mehr – ohne mich!“, so hieß die erste Rettungskampagne 1992, erinnert sich Geschäftsführer Kalle Ruch. – „Und wer war damals noch dabei? War Bascha Mika schon Chefredakteurin?“ – Kalle Ruch überlegt. Und überlegt zu lang. – „Hör mal, du weißt nicht, wer damals Chefredakteur war?“ – Kalle Ruch ordnet noch seine Erinnerung, da ruft es „Elke Schmitter!“ aus dem Dunkel. Elke Schmitter ist nicht da, aber auf der Bühne beginnt die Stegreifkampagne. Und also retten Die Gorillas als Kalle Ruch, Elke Schmitter und ein Leser namens Bernd die taz. Wieder mal.

Wie schön, die Gala ist gerettet. Und draußen vor der Tür, wo junge Fans der Band Wir Sind Helden um Karten bangen, ahnt niemand, dass der Abend so knapp auf der Kippe stand.

Drinnen in der Großen Arena unter dem zwölfzackigen Zeltdach des Tempodroms trötet schon die IG Blech, ein Haufen Musikclowns. Vor der Bühne steht das „bestangezogene Stück Seife“, Klaus-Uwe Benneter, der neue SPD-Generalsekretär. Jedenfalls hat sich Karl-Heinz Hansen, der vor über zwanzig Jahren aus der Partei geflogen ist, jüngst im taz-Interview mit diesen Worten an Benneter erinnert. Der General hat sich nicht extra von seiner Anzuguniform befreit und verschwindet modisch damit im unteren Mittelfeld.

Rainer Langhans, der nun auch den mit schwerer Kordel gesperrten VIP-Bereich gleich unter der Bühne erreicht hat, ist da von ganz anderem Kaliber. Die graue Löwenmähne des 63-jährigen Altkommunarden wallt bis auf die Schultern und geht nahtlos in den luftig-lockeren Leinenanzug über. So geht man auf Partys, wenn man im Vorruhestandsalter ist. Die IG Blech ist derweil unter die Bühne entschwunden, grummelt noch ein wenig wie ein Poltergeist, und schon ist Jörg Thadeusz am Bühnenmikrofon erschienen.

Der etwas beleibte öffentlich-rechtliche Allzweckmoderator wird in der nächsten Stunde nacheinander Gesine Schwan, Daniel Cohn-Bendit, Rudi Marek Dutschke, Hilde Schramm und Bascha Mika zum unvermeidlichen Lobhudeln durch die aufgebaute weiße Tür auf die Bühne holen – und jeder wird auf seine Weise hudeln.

Gesine Schwan nennt die taz einen „steinernen Fels“ und ventiliert Themen wie Ökologie, Frauenrechte und Utopie. Danach begrüßt der Moderator Daniel Cohn-Bendit – und zwar als eine Mischung aus Xavier Naidoo und Puff Daddy. Trotzdem singt der Europaabgeordnete nicht, sondern präsentiert sich polyglott, als wolle er sich demnächst als Fremdenführer durchschlagen, und stellt dann die Frage, warum die taz ein Kiff-Ersatz ist.

Apropos Kiff. Blauer Dunst waberte schon bei Professor Gesine Schwans Vorlesung in die lichte Höhe, und Jörg Thadeusz erinnerte an die „Zauselmännchen“ der ersten taz-Generation, „die sich zukifften, bis sie dachten, alle Sessel glitzern“. Die Polster auf der Bühne glitzern nicht, weder die grüne Couch noch die roten Drehsessel. Schade.

Schade auch, dass nicht wenigstens der CSU-Mann Peter Gauweiler oder der jetzt unterbeschäftigte Georg Gafron, einst Berlins oberster kalter Krieger, zum Hudeln gekommen sind. So wurde es fast ein glatter Durchmarsch, wenn nicht Cohn-Bendit die fehlende selbstkritische Aufarbeitung in der taz routiniert gegeißelt hätte und wenn nicht die taz-Genossenschafterin Hilde Schramm die Redaktion sanft tadelte für eine misslungene Bildunterschrift neulich, als die Gewerkschaftsdemo in Berlin war.

Als Bascha Mika als letzte Laudatorin die Gäste mit erfreulichen Statistiken beglückt, etwa dass an der taz im Durchschnitt täglich einhundertelf Komma noch was Mitarbeiter arbeiten und 528.613 Menschen die taz irgendwo mitlesen, also nicht dafür zahlen, ist die Couch zwar immer noch mattgrün, doch Bascha Mikas orangefarbener Hosenanzug glitzert ein wenig. Das ist der Wandel; was früher der Kiff vermocht hat, gelingt heute Zahlenkolonnen.

Drinnen läuft dann Wolfgang Müllers Ständchenshow, auf den Gängen wühlt sich ein Großteil der etwa 3.500 Gäste, mit Bier und Wein jonglierend, durchs Gedränge. Und wer sich tagsüber bereits auf dem taz-Zukunftskongress verausgabt hat, sitzt in lauer Luft vor dem riesigen Betonzelt und blickt auf die weiße gezackte Kuppel, an die Dutzende taz-Tatzen projiziert sind.

Unter den Tatzen in der Großen Arena haben Judith Holofernes und die drei anderen „Helden“ auf den roten Drehsesseln Platz genommen und singen schon: „Wir können alles schaffen, genau wie die tollen dressierten Affen. Wir müssen nur wollen.“

Das große Programm verläuft planmäßig, nur in der Kleinen Arena hat die „Wahrheit“ aus aktuellem Anlass eine Änderung vorgenommen. Statt „Sag die Wahrheit“ gibt es eine Peter-Strieder-Gedächtnislesung für den Vater des Tempodroms, das seit neun Tagen insolvent ist. Ohne den Exsenator und Ex-SPD-Parteichef von Berlin hätte die taz ja schließlich sonstwo feiern müssen.

Rayk Wieland und Michael Ringel von der „Wahrheit“ sind die hymnischen Vorbeter, die Anwesenden wiederholen artig: „Berlinerinnen und Berliner, zu Hause und im fernen China, seid ratlos, fertig und perplex, verzichtet heute nacht auf Sex, und trauert um den großen Leader, the one and only: Peter …“ Die Leute im Rund beten alles nach, nur als sie am Schluss einmal allein ergänzen sollen, versagt ihnen die Stimme. „Strieder“ will ihnen einfach nicht über die Lippen kommen. Undank ist eben der Welten Lohn, selbst bei einem Geburtstag.