Karneval nach Punkten

Beim Karneval der Kulturen sucht eine achtköpfige Jury die besten Gruppen. Trotz strenger Regeln und großer Hitze werden alle Teilnehmer angefeuert – selbst wenn sie außer Konkurrenz mitlaufen

von SONJA WERDERMANN

Sambabeats. Musik, die eigentlich in die Beine geht. Doch Schwung zeigt nur die Sambagruppe selbst. Vor, zurück, zur Seite, Arme in die Luft, noch einmal, immer wieder. Gerötete Gesichter unter dem Make-up, feucht geschwitzte Haare. Der Vortänzer feuert die anderen an, gibt mit der Trillerpfeife das Tempo vor. Das Publikum des Karnevalsumzugs drängt sich etwas träge im Schatten auf der Hasenheide.

Nur eine kleine Gruppe von Beobachtern wirkt wirklich gebannt: Es ist die Jury, die leicht erhöht in einem weißen Container sitzt. Beim 8. Karneval der Kulturen wird sie auch an diesem Pfingstsonntag wieder drei Preise vergeben: für die beste Gruppe, den schönsten Wagen und einen Kinder- und Jugendpreis.

Im Jury-Container ist es etwas kühler, zumindest weht eine leichte Brise durch die zur Straße offenen Fenster herein. Mineralwasser und frische Kirschen stehen bereit, einzelne Rosen in Wassergläsern. Die acht Juroren in kurzen Sommerklamotten klatschen mit, unten schütteln die Sambatänzer noch einmal ihre Oberkörper, dann sind sie außer Sichtweite.

Sechs der Juroren sind auf je ein Kriterium spezialisiert, Absprachen sind nicht nötig. Schauspielerin Christel Harthaus etwa bewertet die Umsetzung des von der Gruppe angegebenen Themas. Rainer W. Ernst, Rektor der Kunsthochschule Weißensee, beurteilt die Kostüme, Johannes Theurer vom Radio Multikulti die musikalische Darbietung. Zusätzlich vergibt jeder eine zweite Note für den Gesamteindruck. Zwei weitere Karnevalsrichter vergeben die Sonderpreise für den schönsten Wagen und für Kinder- und Jugendgruppen.

„Jetzt kommt die Nummer 42“, sagt Harthaus. Doch die „Ebringer Gässlifätzer“, stehen nicht auf der Liste – nur 42 der 103 teilnehmenden Gruppen haben sich auch für den Wettbewerb angemeldet. Die knollennasigen Männchen mit zotteligen lila Plastikperücken ziehen unbewertet vorbei. Trotzdem klatschen alle Juroren dem blechblasenden Trupp zu.

„Nummer 43“, kündigt Harthaus die nächste Gruppe an. Es wird wenig gesprochen im Jurywagen. Zu den „bombastischen Obidumbie-Falken“, die in schwarzen Kostümen mit bunten Stoffstreifen unter den Armen vorbeitanzen, notiert der Juryvorsitzende Tiago de Oliveira Pinto kurz und bündig: „Zeit überschritten“. Das gibt Punktabzug, denn jeder Gruppe stehen nur eineinhalb Minuten zur Verfügung. Inhaltlich bewerten darf der Brasilianer die Gruppen nicht, er ist zuständig für die Einhaltung der Regeln. Die Juroren hat der Musikethnologe in Absprache mit dem Organisator, der Werkstatt der Kulturen, benannt.

Das Bewertungssystem sei ein Import aus Recife, Brasilien, erklärt Pinto, Leiter des Braslianischen Kulturinstituts in Berlin (ICBRA). Er selbst war mehrfach Jurymitglied in seinem Heimatland. Das Modell habe sich bewährt, um auch heterogene Gruppen miteinander zu vergleichen, und „passt deshalb auch ganz gut für Berlin“. Oft werde der Jury vorgeworfen, man könne so unterschiedliche künsterlische Darbeitungsformen wie Pantomime und Tanz nicht miteinander vergleichen. Sechs Kriterien werden bewertet, aber nur fünf gehen in die Wertung ein. Wenn also eine Gruppe ohne Wagen und Requisiten oder ohne Musik auftritt, fällt dieser Punkt einfach weg. „Wir vergleichen nicht Äpfel mit Birnen. Wir bewerten Äpfel und Birnen für sich. So kann jede Form von Gruppe zur Geltung kommen“, erklärt Tiago de Oliveira Pinto.

Viola König wirft einen raschen Blick auf die Beschreibung der nächsten Gruppe in ihren Unterlagen und markiert mit Textmarker den Schlüsselbegriff des Textes: „Große Libelle“. Die Direktorin des ethnologischen Museums Dahlem nominiert den schönsten Wagen. Ein großer schwarzer Truck, auf dem eine riesige Pappmascheelibelle mit hellgelben Seidenflügeln schaukelt, schiebt sich vorbei. Die Seiten sind aufwendig mit Blüten und Blättern dekoriert. Mehrere Monate Arbeit stecken darin. König notiert eine Zahl.

Am Abend wird der Jurychef die Bewertungsbögen der Werkstatt der Kulturen überreichen. Dort werden bis in die Nacht hinein die Punkte zusammengezählt. Das Endergebnis erfährt auch die Jury erst bei der Preisverleihung. Nur einmal geht es schneller. „Da kommt das Essen“, sagt Rainer Ernst. Ein Mann mit einer riesigen Schnittchenplatte steigt die wackligen Stufen zum Container hinauf. Die Juroren sind zufrieden.