elsternstandort deutschland, quo vadis? von MICHAEL RUDOLF
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Vor Tagen mailte mir ein Freund in einer fehlgeschlagenen TV-Angelegenheit, die uns beide als Autoren hätte reich und berühmt machen sollen, dass „noch schlimmer als wir jene Elstern dran sein müssen, die in der Krone des Baumes hinter meinem Haus noch bis vorgestern ihr Nest hatten, das erst infolge starken Windes aus dem obersten Stockwerk etwas abwärts gerissen wurde, wo es sich ein paar Tage stabilisierte und wieder eingerichtet wurde, um nun vorgestern komplett von einem herzlosen Sturm abserviert zu werden“. Dabei könne er Elstern gar nicht leiden.

Die Elsternfrage, antwortete ich, sei auch hier in der Schwebe. Allerlei despektierliche Bemerkungen der Nachbarn seien zu ertragen, und diese erhielten zudem einen nicht misszuverstehenden Aufforderungscharakter durch den Hinweis, ein nerviges Elsternpaar niste bei uns. Ich konnte wahrheitsgemäß erwidern, mein liebes Weib protestiere seit einiger Zeit in scharfer Form gegen den knatternden Vogellärm. Ich könne die Viecher auch nicht leiden, aber eine werbende Ansprache in Sachen qualitativ gleichwertiger Alternativstandorte traute ich mir trotzdem nicht zu.

„Das Unangenehme bei Elstern ist gemeinhin ihre aufgesetzte Geschäftigkeit. Immer gibt es was zum Hin-und-her-Fliegen, ständig wird geschnackt, nicht selten gestritten, gern auch mit Vertretern anderer Vogelfamilien. Mit affektiert abgespreizten Schwanzfedern segeln und flattern sie überall herum. Von einer Trauer infolge Nestabgang ist überhaupt nichts zu spüren. Kein Wunder, dass sie niemand leiden kann, ich auch nicht, wie gesagt.“ So weit wiederum der liebe Kollege in seiner bedenkenswerten Replik.

Mir scheint aber, wir machen es uns in der Elsternfrage zu einfach. Sogleich schlug ich in einem populären Nachschlagewerk nach, nur um zu lesen, „unsere Elster“ (Pica pica) sei „im offenen Lebensraum mit Baum und Busch so allgemein verbreitet, dabei so häufig und so auffällig, dass sie nicht beschrieben werden braucht“. In einem anderen Standardwerk steht geschrieben, sie mache sich „durch den Diebstahl von glänzenden Gegenständen, wie Brillen, Schlüssel und Schmuck unbeliebt“, gehöre aber zu den „wenigen Vogelarten, die als anpassungsfähige Kulturfolger keines gesetzlichen Schutzes bedürfen“. Woher kommt diese prinzipielle Leichtfertigkeit des Menschen, mit der er seine Schöpfungskollegen in Nützlinge und Schädlinge scheidet. Erkennen wir in ihrer „aufgesetzten Geschäftigkeit“ nicht auch wesentliche Züge von uns selbst? Sind die diebischen Elstern unser schlechtes Gewissen? Woher sollen diese Pechvögel die feinen Nuancen unserer Eigentumsverhältnisse und nicht zuletzt Ruhebedürfnisse kennen, wie sie gar verstehen lernen? In anderen Segmenten tun wir alles, um den Standort Deutschland attraktiv, spannend und innovativ zu gestalten. Bei den Elstern fehlen uns die notwendigen Visionen. Warum lassen wir uns nicht von der Aufbruchstimmung in der Natur anstecken? Leidenkönnen oder Nichtleidenkönnen sind jedenfalls denkbar unpassende Kriterien.